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Vergangenheit und Zukunft der russischen Eisenbahn: Eine Reise durch die Zeit und geopolitische Realitäten

Von einem japanischen Marathonläufer zur Transsib-Ikone: Eine Reflexion über 100 Jahre Eisenbahngeschichte, ambitionierte Pläne und anhaltende Herausforderungen.

Dieter Feige, Dezember 2012

Die Geschichte von Shizo Kanakuri und dem "Marathonlauf seines Lebens" ist skurril und rührend zugleich. In ihr spielt die Transsibirische Eisenbahn (Transsib) eine prominente, wenn auch damals unglückselige Rolle. 1912 reiste Kanakuri, einer der ersten japanischen Athleten bei den Olympischen Spielen in Stockholm, größtenteils mit der Bahn an: Nach der Schiffspassage nach Wladiwostok fuhr er mit der Transsib quer durch Russland, dann über Finnland nach Schweden. 18 Tage war er unterwegs, so mitgenommen, dass er erst nach fünf Tagen das Training aufnehmen konnte. Der Marathon wurde an einem extrem heißen letzten Tag der Spiele veranstaltet. Bei Kilometer 30, im Stockholmer Vorort Sollentuna, wurde Kanakuri von einer Familie, die im Vorgarten das Rennen verfolgte, spontan zur Erfrischung und kurzen Ruhepause eingeladen. Der noch immer angeschlagene Läufer nahm dankend an – und verfiel augenblicklich in einen tiefen Schlaf. Erst am nächsten Morgen, lange nach Rennende und als vermisst gemeldet, wachte er wieder auf. Peinlich berührt, reiste er ohne Rückmeldung der olympischen Offiziellen nach Japan aus. Obwohl er bis 1924 eine erfolgreiche internationale Karriere als Marathonläufer machte, galt er in Schweden 50 Jahre lang als vermisst. Erst 1966 kontaktierte ein schwedischer Fernsehsender den inzwischen 75-jährigen Universitätsprofessor und bot ihm an, seinen Lauf zu beenden. Er nahm an, reiste 1967 nach Stockholm und beendete den Marathon an der Stelle, wo er damals abgebrochen hatte. Nach 54 Jahren, 8 Monaten, 6 Tagen, 3 Stunden, 32 Minuten und 20,3 Sekunden nach dem Start beendete er den langsamsten Marathon aller Zeiten. "Es war eine lange Reise", sagte er danach. "Unterwegs habe ich geheiratet, sechs Kinder und zehn Enkelkinder bekommen."

Durch die Erfahrungen des leidgeplagten Passagiers Herrn Kanakuri können wir den beklagenswerten Zustand der Transsib jener Jahre nachempfinden. Die Anekdote verdeutlicht zudem eine simple, aber bis heute bedeutsame Tatsache: die schiere Größe und Weite des russischen Territoriums, die auch mit der Eisenbahn erst einmal bezwungen werden muss. Doch wie ist es um den Zustand der russischen Eisenbahn heute, über 100 Jahre später, bestellt? Was hat sich seit 1912 verändert und welche Herausforderungen und Potenziale birgt der russische Eisenbahnmarkt für die Zukunft? Ein Blick zurück lohnt sich, bevor wir nach vorne schauen.

Verstaatlichung und Goldenes Zeitalter: Die russische Eisenbahn 1917 bis 1991

Russland ist das flächenmäßig größte Land der Welt. Seine Geographie, geprägt von Flüssen auf der Nord-Süd-Achse und weiten Landwegen zwischen Ost und West, bietet theoretisch ideale Voraussetzungen für den Bau eines Eisenbahnnetzes als Grundlage für modernen Transport. Unter dem Zaren (bis 1917) war der Eisenbahnbau eher marginal. Seit den 1880er-Jahren befanden sich die russischen Eisenbahngesellschaften in privater Hand, wurden jedoch bei finanziellen Schwierigkeiten vom Staat übernommen, was zu einem Mischsystem führte. Um 1906 war Zentralasien durch die Trans-Aral-Eisenbahn mit dem europäischen Russland verbunden. Die Transsib, zwischen 1891 und 1916 gebaut, verband das europäische Russland mit seinem fernen Osten und dem Japanischen Meer.

Die russischen Eisenbahnarbeiter spielten bei der Revolution 1917 eine ähnlich wichtige Rolle wie später die deutschen Matrosen 1918/19. Nach dem Bürgerkrieg wurden alle Eisenbahngesellschaften in der 1922 gegründeten Sowjetunion (UdSSR) verstaatlicht. Dort erlebte die Eisenbahn einen wahren Boom. Obwohl das Netz im Bürgerkrieg massiv beschädigt war (60% des Streckennetzes, 80% der Waggons und 90% der Loks zerstört), wurde es mit 5-Jahres-Plänen wieder aufgebaut und industrialisiert. Das Volumen des Güterverkehrs auf der Schiene verzwanzigfachte sich bis 1941 auf 400 Milliarden Tonnen-Kilometer. Im Zweiten Weltkrieg spielte die Eisenbahn eine kriegsentscheidende Rolle beim Truppentransport und der Evakuierung von Menschen, Maschinen und ganzen Fabriken ins Hinterland.

Nach Kriegsende trieben die Sowjets den Ausbau des Güterverkehrs weiter voran. Von 1954 bis 1988 war die Russische Eisenbahn weltweit führend im Güterverkehr. 1960 wurde dort die Hälfte des weltweiten Güterverkehrs auf der Schiene umgeschlagen, obwohl das Streckennetz nur zehn Prozent des weltweiten Schienennetzes ausmachte. Die Sowjets modernisierten die russische Eisenbahn durch umfassende Elektrifizierung, den Bau neuer Linien, die Einführung automatischer Kupplungen, Bremsen und Signale sowie die Gründung von Eisenbahn-Universitäten.

Mit dem Zusammenbruch der UdSSR 1991 zerfiel das Eisenbahnnetz in verschiedene nationale Teilnetze der ehemaligen Sowjetrepubliken. Dies führte zu einem drastischen Rückgang im Güterverkehr, der bis 1997 auf einen Tiefpunkt von nur 40% des Wertes von 1988 fiel.

Die Entstehung einer Ikone: Der Bau der Transsib

Das Streckennetz der Transsib ist wohl der prominenteste Teil des russischen Eisenbahnnetzes. Sie ist die längste durchgehende Eisenbahnverbindung der Welt und Russlands Hauptverkehrsachse. Auf einer Länge von 9.288 km liegen 80 Stationen auf dem Weg von Moskau nach Wladiwostok am Pazifik. Die Fahrt dauert heute nur noch etwa sechs Tage.

Der Bau der Transsib war eine ungeheure technische und logistische Herausforderung. Die Kosten (geplant 325 Millionen Rubel) wurden mit 1 Milliarde Rubel deutlich überschritten, finanziert überwiegend durch Auslandskredite (Frankreich, Belgien). Kostentreiber war der Abschnitt der Chinesischen Osteisenbahn, der 1903 fertiggestellt wurde. Epidemien wie die Beulenpest und Cholera, sowie Aufstände wie der chinesische Boxeraufstand, bei dem 1900 rund 700 Kilometer Gleise zerstört wurden, erschwerten den Bau massiv.

Bis zu 90.000 Arbeiter schufteten gleichzeitig, Zehntausende ließen dabei ihr Leben. Die Planung war mangelhaft; die Hälfte der Strecke war Berichten zufolge vor Baubeginn nicht vermessen worden. Klimatische Extreme – bis zu minus 50° Celsius in Sibirien und Permafrostböden – verursachten Erdrutsche und ließen Gleise mitsamt ihrer Aufschüttungen versinken. Der zweigleisige Ausbau der Transsib wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg fertiggestellt, die durchgehende Elektrifizierung aller Gleise sogar erst 2002.

Russlands Eisenbahnnetz heute: Zwischen Wachstum und Modernisierungsbedarf

Mit 85.200 km ist das Streckennetz der russischen Eisenbahn das zweitgrößte der Welt (nach China, ca. 110.000 km). Knapp die Hälfte, 43.100 km, sind elektrifiziert. Jährlich werden etwa 0,95 Milliarden Passagiere und 1,2 Milliarden Tonnen Fracht über elf Zeitzonen hinweg befördert. Die staatliche Eisenbahngesellschaft Russische Eisenbahnen (RZhD) baut dieses Netz strategisch aus.

Drei der neun Pan-Europäischen Transportkorridore verbinden Europa und Russland:

  • Korridor Nr. 1: Tallinn, Riga, Sovetsk, Kaliningrad, Mamonovo und Gdansk.
  • Korridor Nr. 2: Berlin, Warschau, Minsk, Moskau und Nischni Nowgorod (seit 1995 mit dem Containerblockzug Ostwind).
  • Korridor Nr. 9: Helsinki, St. Petersburg, Moskau und Suzemka.

Die Baikal-Amur-Linie (BAM), streckenweise parallel und nördlich der Transsib verlaufend, wurde ab den 1930ern gebaut (oft durch Kriegsgefangene und Gulag-Insassen) und 1991 fertiggestellt. Trotz dieser Fernverkehrslinien und eines weitverzweigten Regional-, S- und U-Bahn-Netzes in größeren Städten, besteht seit dem Zusammenbruch der UdSSR an fast allen Ecken und Enden hoher Modernisierungsbedarf.

Volkswirtschaftliche Dynamik vs. strukturelle Defizite

Die volkswirtschaftliche Lage Russlands bot bis vor Kurzem grundsätzlich gute Rahmenbedingungen für Geschäfte im Eisenbahnsektor. Bis 2012 wuchs die Wirtschaft kontinuierlich (abgesehen vom Einbruch 2009), mit BIP-Wachstumsraten von rund 4% in 2010 und 2011. Insbesondere die verarbeitende Industrie profitierte überproportional, mit starkem Wachstum in der Produktion von Transportmitteln, Maschinen und Elektronik. Der deutsch-russische Außenhandel florierte, mit Rekordexporten deutscher Industriegüter nach Russland.

Demgegenüber stand jedoch ein erschreckend hoher Modernisierungsrückstand. Russland war (und ist) in hohem Maße von seinen Rohstoffen abhängig (70% der Exporte waren Öl oder Gas). Die GTAI beklagte zudem eine veraltete industrielle Substanz; international konkurrenzfähige Waren aus russischer Herstellung hatten Seltenheitswert.

Der russische Eisenbahnmarkt: Reformen, Ambitionen und Korruption

Der russische Eisenbahnmarkt ist nach wie vor stark von seiner planwirtschaftlichen Tradition geprägt. Seit 1922 war die Eisenbahn verstaatlicht. Der Gigant RZhD (Russische Eisenbahnen), mit knapp 1 Million Beschäftigten und als staatlich gehaltene Aktiengesellschaft viertgrößte Firma Russlands, steht in dieser Tradition. Seit dem Zusammenbruch der UdSSR haben Regierung und RZhD Reformprogramme zur Privatisierung und Modernisierung eingeleitet.

Eine Eisenbahnstrukturreform, beraten von McKinsey und Arthur Anderson, wurde 2001 verabschiedet. In drei Phasen sollte die Trennung staatlicher und unternehmerischer Tätigkeiten, die Förderung des Wettbewerbs im Güterverkehr und die Reduzierung von Quersubventionen erfolgen. Die RZhD ging 2003 an die russische Börse. Obwohl der Güterverkehr auf der Schiene fast vollständig privatisiert wurde, stieg die Effizienz nicht zwangsläufig; das schnelle, fast unkontrollierte Wachstum privater Anbieter führte zu Koordinationsproblemen. Die RZhD musste sich erst an ihre neue Rolle als Wettbewerbskoordinator gewöhnen und hat es versäumt, ausreichend in Lokomotiven und Streckenausbau zu investieren.

Die 2008 ratifizierte Strategie zur Entwicklung des Schienenverkehrs bis 2030 sah in zwei Phasen die Erneuerung bestehender Infrastruktur und den Bau neuer, prioritärer Güterverkehrslinien vor. Ein Minimum-Szenario prognostizierte 16.017 km, maximal 20.730 km zusätzliche Strecken. Ambitionierte Projekte auf dem Reißbrett der RZhD-Reformer umfassten die Erneuerung der Flotte, den Ausbau des Schnellzugverkehrs, die Verlängerung der Transsib bis Südkorea und den Aufbau eines Nord-Süd-Korridors von Helsinki über Deutschland, Polen, Weißrussland, die Ukraine, Russland, Kasachstan und Usbekistan bis zum Iran, um dem Schiffsverkehr durch den Suezkanal Konkurrenz zu machen.

Zusätzlich waren Anreize zum Infrastrukturausbau durch sportliche Großereignisse wie die Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi und die Fußball-WM 2018 in Russland zu erwarten. Diese sollten vor allem das öffentliche Nahverkehrssystem (S- und U-Bahnen) und den Bau von Hochgeschwindigkeitstrassen zwischen den Austragungsstätten beeinflussen (z.B. Moskau-St. Petersburg, mit Zügen bis zu 400 km/h). Die RZhD plante auch die Anbindung von WM-Flughäfen an das S-Bahn-Netz und den Ausbau von U-Bahn-Netzen in elf Millionenstädten. Partnerschaften mit Unternehmen wie Siemens und Bombardier wurden geschlossen, um neue Züge und Lokomotiven zu liefern.

Der Markt für Eisenbahnprodukte und -teile in Russland galt als weltweit größter. Obwohl russische Waggonbauer die meisten Teile selbst produzieren können, bot der Markt auch Chancen für internationale Zulieferer, insbesondere im Bereich Piggy-Back-Transport (Schiffscontainer auf der Schiene).

Der WTO-Beitritt Russlands im August 2012 (nach 18-jährigen Verhandlungen) sollte neben Zollsatzsenkungen auch eine verbesserte Rechtssicherheit und Planbarkeit für Geschäfte mit Russland sowie einen besseren Schutz geistigen Eigentums ermöglichen.

Allerdings gab es auch spezifische Markteintrittshürden: die gesetzliche Zertifizierungspflicht für viele Komponenten und Systembauteile, die oft eine "freiwillige" Zertifizierung nach russischen Standards außerhalb der ISO-Normen erforderte. Dies konnte zeit- und kostspielig sein. Und nicht zuletzt die fast schon endemische Korruption. Im Corruption Perception Index von Transparency International rangierte Russland 2011 auf Platz 143 von 182. Der riesige Eisenbahnsektor blieb davon nicht verschont, wie z.B. Korruptionsanschuldigungen auf höchster Ebene der RZhD, die die Familie des damaligen Präsidenten Vladimir Yakunin betrafen, belegten.

 

Der Wandel im Rückblick

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Hürden für einen Markteinstieg im Eisenbahnsektor Russlands vergleichsweise hoch waren und blieben. Die ambitionierten Pläne, die um 2012 existierten – die Modernisierung, die neuen Hochgeschwindigkeitsstrecken und die internationale Integration – haben sich in den Folgejahren unterschiedlich entwickelt. Während einige Projekte, insbesondere im Zusammenhang mit den sportlichen Großereignissen, umgesetzt wurden und die Infrastruktur in Teilen modernisiert werden konnte, haben geopolitische Verschiebungen und neue wirtschaftliche Realitäten die langfristigen Visionen und die internationale Zusammenarbeit seitdem stark beeinflusst. Der Aufbau einer modernen, integrierten und korruptionsfreien Eisenbahninfrastruktur bleibt eine ständige Herausforderung, die eng mit der gesamtwirtschaftlichen und politischen Entwicklung des Landes verknüpft ist.

Die Geschichte der russischen Eisenbahn, von Kanakuris Odyssee bis zu den modernen Herausforderungen, ist ein Spiegelbild Russlands selbst: ein Land von immenser Größe und komplexen Gegebenheiten, das stets zwischen ambitionierten Zielen und strukturellen Realitäten navigieren muss. Wie 1955 das Fußballspiel zwischen Russland und Deutschland ein Omen für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen und den Beginn intensiver Wirtschaftsbeziehungen war, so zeigt die Historie immer wieder, wie Verbindungen und das Streben nach Fortschritt Chancen eröffnen können. Doch das tatsächliche Potenzial kann nur ausgeschöpft werden, wenn Transparenz, Stabilität und ein klares Bekenntnis zu langfristiger Entwicklung die Rahmenbedingungen prägen.

 

Q:eigener Entwurf
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Q:Business News Nigeria Shizo Kanakuri Marathon took 54 years to finish
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