Dabbawalas


Dabbawalas - Die alternative Lunch-Logistik made in India

 

Dieter Feige, Juli 2022

 

Ein Heer von Analphabeten liefert punktgenau verzehrfertige Mittagskost an den Arbeitsplatz

Meldungen über die Verwundbarkeit unserer globalen Lieferketten sind an der Tagesordnung. Staus in Häfen, Transportarbeiterstreik, Personalmangel, Piraterie, Hackerangriffe, nun noch der Ukrainekrieg und so fort. Das ließ mich an ein ausgezeichnet funktionierendes, fast primitiv anmutendes Logistiksystem erinnern, das ich während meiner beruflichen Aufenthalte in Mumbai kennengelernt hatte und das hinter dem klangvollen Namen „Dabbawalas“ steckt. Und das geht so: Ein Donnerstag in Mumbai, kurz vor 12 Uhr. Jaspal Gupta, Informatiker, freut sich auf sein Mittagsmahl. Biryani, sein Leibgericht, hatte ihm seine Frau Lata versprochen. Wenige Minuten später klopft es an der Bürotür im vierten Stock des Gebäudes auf der Napean Sea Road in Nähe der Central Railway Station East. Es ist Prakash, ein Dabbawala, der ihm mit einem freundlichen Grinsen seinen Dabbas bringt, auf den Schreibtisch stellt und mit kurzem Gruß davoneilt. Prakash oder Denil, einer seiner Kollegen, würden am Nachmittag den leeren Dabbas, einen mehrteiligen Speisebehälter, wieder abholen. Jaspal Gupta gehört zu den 200.000 Kunden in Mumbai, die sich zur Mittagszeit zwischen 12 und 13 Uhr täglich ihr frisch zubereitetes und mundwarmes Mittagsmahl an ihren Arbeitsplatz von einem Heer Dabbawalas bringen lassen, ob vom heimischen Herd oder aus einer Großküche. Das spart längere Wege zu einem Restaurant oder einer Straßenküche, also Zeit, ist wesentlich preiswerter und kommt vor allem der indischen Gewohnheit zugute, Mahlzeiten aus der eigenen Küche zu verzehren. Seit mehr als hundert Jahren funktioniert dieser Service mit einer sagenhaften Kundenzufriedenheit von 99,9 Prozent reibungslos. Die rund 5.000 Lieferkulis in Mumbai, Dabbawalas genannt, sind überwiegend Analphabeten und verdienen im Schnitt umgerechnet ansehnliche € 120 im Monat. Just in time kommt das Essen in der Zwölfmillionen-Metropole zum Kunden, der Radius der Anlieferungen innerhalb von drei Stunden beträgt rund 70 innerstädtische Kilometer inmitten dichten Verkehrsaufkommens auf den oft verstopften Straßen. Dieses Logistiksystem funktioniert rein analog, Low-Tech, ohne digitalen Tools, fast archaisch, möchte man sagen. Laut SAP erhielt dieser Weltrekord an Zustellungsgenauigkeit die Auszeichnung „bestes Zeitmanagement“. Wohlgemerkt bei 80 Millionen Anlieferungen pro Jahr und einem Zufriedenheitsgrad von nahezu einhundert Prozent. Im Klartext heißt das, ein statistischer Fehler bei 6 Millionen Anlieferungen. Das Motto, das dahinter steht, lautet schlicht „Error is horror“. Somit drängt sich die brennende Frage auf, wie eine Organisation beschaffen sein muss, um diese Meisterlogistik hinzukriegen, die in ihrer Präzision Vergleiche zu Insektenstaaten nahelegt.

 

Perfekt organisierter „Ameisenhaufen“ garantiert die Anlieferung just in time

Betrachten wir die operationale Ebene, so verläuft die Lieferkette vom heimischen Herd des Kunden oder einer Großküche im ersten Schritt zu einem der vielen lokalen Sammelpunkte, die innerhalb des Stadtgebiets sich befinden. Ein eingespieltes Team von Dabbawalas mit besten Ortskenntnissen und genauem Wissen der Kundenadressen besorgt vormittags in der Abholphase diesen Transport mittels Fahrrad nebst Holzkiste bzw. Handkarren für die Dabbas. Von diesen Sammelpunkten erfolgt sodann im zweiten Schritt der Weitertransport meist mittels innerstädtischer Eisenbahnen bis zu den jeweiligen Zonen im Zielbereich, die in der Nähe der Kunden liegen. Diese bekommen von dort aus von den für die Anlieferung zuständigen Dabbawalas ihre Mahlzeit im dritten Schritt zeitgerecht und punktgenau geliefert. Der Rücktransport der leeren Behälter erfolgt gegenläufig nach gleichem Prinzip. Dadurch ist gewährleistet, dass die Dabbawalas jederzeit bei diesem von Hand zu Hand gehenden Transport vollständige Kontrolle über die Dabbas auf dem Lieferweg bis zum Lieferort haben. Ein einfaches, speziell für Analphabeten les- und somit handhabbares Codierungssystem auf den Dabbas sorgt dafür, dass jeder Behälter seinen Kunden und den Weg zurück erreicht. Je ein Code für Abholregion, für Startstation (Sammelpunkt) und Zielstation, für die Ziellieferregion, für das Gebäude und für das Stockwerk. Einer Gruppe von Dabbawalas, den einfachen Lieferboten, den Gaddi, steht ein Vorarbeiter, ein Mukadam, vor. Fahrräder und Transportgeräte sind im Privatbesitz der Dabbawalas, uniformiert sind sie mit weißen Baumwollpyjamas und weißer Ghandi-Kappe. Die Dabbawalas sind selbständig, aber gewerkschaftlich organisiert, sodass sie Garantie auf eine lebenslange Beschäftigung in dieser Branche haben. Das finanzielle Ergebnis teilt jede Gruppe monatlich mit ihrem Mukadam untereinander auf; Fehlzeiten, Alkohol oder Tabak während der Arbeitszeit sowie nicht korrekte Arbeitskleidung werden mit Geldbußen bestraft. So sorgen die Teams für die Einhaltung ihrer Qualitätsstandards und des guten Rufs, den sie bei ihren zahlreichen Kunden genießen, die täglich in den Genuss ihres Tiffin kommen, so das indische Wort für warmes Mittagessen, angeliefert in einem Dabba, der Tiffin-Box.

 

Wie bereits seit 1890, wo im damaligen Bombay ein Lieferservice dieser Art ins Leben gerufen wurde. Der Anlass dafür war, dass viele Leute in ihren Büros mittags hungern mussten, weil es kaum Kantinen gab. Außerdem waren sie aus verschiedenen Regionen Indiens in die Metropole gezogen, hatten folglich ethnisch differente Geschmäcker. Die Mittagskost aus eigener Küche schlug so gut ein, sodass 1956 eine gemeinnützige Stiftung gegründet wurde, Nutan Mumbai Tiffin Box Suppliers Trust. Der kommerzielle Teil dieses Trusts heißt seit 1968 Mumbai Tiffin Box Suppliers Association.

 

Neuerdings, so erfuhr ich von einem indischen Bekannten, nehmen auch immer mehr Restaurants diesen Lieferservice wegen der pünktlichen und zuverlässigen Anlieferung in Anspruch. Auch „High-Tech“ ist eingezogen, heißt, Bestellungen erfolgen bereits mit SMS. In anderen Städten Indiens ist dieses Logistiksystem gleichfalls etabliert, sodass die jährlichen Wachstumsprognosen von fünf bis sieben Prozent nicht verwundern. Dabbawalas ist optimal für indische Verhältnisse und bestens auf die Mentalität der Inder zugeschnitten. Täglich Hausmannskost a la carte zum Lunch, dauerhaft Arbeit mit auskömmlichem Verdienst für Analphabeten, eine Wertschöpfung auf der Basis eines Wertekanons, der an die Zünfte im europäischen Mittelalter erinnert. Aber genau die strikte Einhaltung dieses Wertesystems ist der Erfolgsgarant für die Dabbawalas-Philosophie.

 

Originär auf Indien sowie den Zweck zugeschnitten, lässt sich dieses Logistiksystem wohl kaum adaptieren. Doch wir können von den Stärken von Dabbawalas lernen, von den ausschlaggebenden Faktoren, die den störungsfreien Ablauf garantieren. Die lokalen Produktionsstätten, heimischer Herd und Großküchen, in kurzer Transporterreichbarkeit, die zuverlässigen Transportsysteme wie Fußläufigkeit, Fahrräder, Handkarren und Eisenbahnen, zentrale Umschlagplätze, eine leicht erkennbare Codierung sowie eine ortskundige Manpower in eingespielten Teams bewirken diese optimale Resilienz. Resilienz ist auch das Stichwort für neue Supply-Chain-Strategien, die ab Januar 2023 dem Lieferkettengesetz unterliegen. Viele Überlegungen sind bereits im Spiel, auch durch die Pandemie-Schock ausgelöst, wie beispielsweise regionale Beschaffungsmärkte, Produktionsstätten in geografischer Nähe, erhöhte Bevorratung mittels Lagerkapazitäten, alternative Lieferanten, Notfall-Lieferanten, um Risiken zu minimieren, die aber stets branchenspezifisch greifen müssen. Vermutlich wird die Lösung ein Diversifizierungs-Mix sein, den man Glokalisierung nennt. Global-Lokal. Hoffnung auf gutes Gelingen verheißt uns das berühmte Zitat von Hölderlin „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“.

 

 

 

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