Unverhoffte Spätkarriere
Von der Abrissbirne ins Rampenlicht
Dieter Feige, Mai 2022
Eine unverhoffte Spätkarriere
Die unglaubliche Geschichte des Sixto Diaz Rodriguez
Unsere eingefleischte Blickverengung
Bei ehrlicher Betrachtung gilt im Personalwesen in der freien Wirtschaft - ob Berater, Personalentwickler oder Recruiter - unser Augenmerk doch vorwiegend den Leistungsträgern. Ausbildung, berufliche Entwicklung, Weiterbildung stehen im Fokus. Doch die Gescheiterten, kurz als Loser abqualifiziert, haben wir nicht auf dem Radar. Dabei sind sie oft mit guter Ausbildung gestartet, bis irgendwann alles schiefgegangen, aus dem Ruder gelaufen ist. Wir sind solchen Pechvögeln schon oft begegnet, die kaum noch Hoffnung schöpfen, da ihren Bemühungen und Versuchen der Erfolg versagt blieb. An einem Filmabend bei Freunden sah ich den Film Searching for Sugar Man, der vor zehn Jahren für Furore sorgte und 2013 mit dem Oscar für den besten Dokumentarfilm ausgezeichnet wurde. Der Film erzählt die wahre Geschichte des Songwriters und Sängers Sixto Diaz Rodriguez, der in den 70ern gefloppt war, seinem Schicksal ergeben bei einer Abbruchfirma jobbte und auf wundersame Weise, völlig unerwartet in den 90ern ein Star wurde. Zur nachstehenden, von mir recherchierten Story empfehle ich das YouTube-Video https://www.youtube.com/watch?v=_W978zoLu1w
Der verschmähte Newcomer
Sixto Diaz Rodriguez wurde in seiner Heimatstadt Detroit in den 60ern von Talentscouts in Clubs und Kneipen entdeckt, wo er mit seiner Gitarre auftrat. Seine musikalische Nähe zu Donovan und Dylan versprach den Produzenten einen breiten Publikumserfolg für seine selbst komponierten folkloristischen Pop-Songs. 1970 erschien das erste Album „Cold Fact“ des höchst talentierten Sohns mexikanischer Einwanderer, der 1942 in Detroit das Licht der Welt erblickte. Ein Mix aus bemerkenswerten Songs, die in das Genre Tamla Motown fielen, dem in Detroit beheimateten Plattenlabel, das Stars wie Diana Ross, Stevie Wonder und Marvin Gaye produziert und zu Weltruhm verholfen hatte. Nicht so Sixto Diaz Rodriguez. Kein Dutzend der Platte wurde verkauft. Das zweite Album ein Jahr später, „Coming from Reality“, floppte gleichfalls. Rodriguez verschwand spurlos von der Bildfläche, es rankten sich erste Mythen um den von Musikkritikern hoch gelobten, aber vom Publikum verschmähten Musiker. Augenzeugenberichten zufolge habe er sich auf der Bühne erschossen, aber es hielt sich auch das Gerücht, er habe sich verbrannt. Andere Stimmen behaupteten, er sei wegen der Tragik seines Schicksals Opfer von Drogen geworden. Er war nach landläufiger Meinung mausetot.
Einige Jahre später war der totgeglaubte Rodriguez im fernen Südafrika bereits ein singender Held der Widerstandsbewegung in der Subkultur in Johannesburg und Kapstadt, wo der Kampf gegen die Apartheid seinen Ausgang nahm. Irgendwie waren Exemplare seiner Alben dorthin gekommen. Dort wurden seine Songs, täglich mehrfach in Radiostationen von DJ´s aufgelegt, schnell zu Tophits. Die Platten wurden kopiert, von drei verschiedenen Labels neu verlegt, was Millionenerlöse einbrachte. Seine Lieder wurden von der südafrikanischen Audience als Protestsongs gewertet. Rodriguez spielte in Südafrika folglich in der Liga der Stones und Beatles, war populärer als Elvis. Von alldem aber hatte der traurige Held Sixto Diaz Rodriguez keinen Schimmer, der in Detroit ein tristes Leben als Bauarbeiter führte, um über die Runden zu kommen. Aus dem abgeschotteten Apartheidregime drangen solche Meldungen nicht in die umgebende Welt.
Von der Abrissbirne ins Rampenlicht
In den 90ern kam in Südafrika eine neuaufgelegte CD mit bekannten Songs von Rodriguez auf den Markt, im Booklet der Hinweis, dass man nichts über den Songwriter und Sänger wisse. Das brachte zwei Fans auf den Plan, ihn zu suchen. Ein Abenteuer mit Happy End. Sie fanden ihn in Detroit, völlig verarmt, aber lebendig. Er begleitete sie nach Kapstadt, gab dort sechs ausverkaufte Konzerte, auch in den USA trat er wieder auf. Seinen begeisterten Fans soll er jedes Mal zum Schlussapplaus mit den Worten gedankt haben, „Danke, dass ihr mich am Leben erhalten habt.“ Über die Ursachen seines Misserfolgs in den USA lässt sich nur spekulieren. Vielleicht war es sein mexikanischer Name? Der Tamla-Motown-Sound war Black Musik, Protestsongs ein Privileg weißer US-Musiker, wie Bob Dylan, Joan Baez, Pete Seeger.
Einzigartig, diese märchenhafte Geschichte vom späten Erfolg und Ruhm. Doch es gibt viele Schicksale dieser Art in der Geschichte. Etliche Erfinder und Konstrukteure mussten lange warten, bis ihre Entwicklungen und Kreationen den Siegeszug antreten konnten. John Logie Baird, ein Schotte, präsentierte 1925 der Fachwelt einen funktionierenden Fernsehapparat. Eine kommerzielle Blamage, so das Urteil der Experten. Noch 1946 war ein Hollywood-Produzent der Meinung, Menschen würden nicht lange auf eine Sperrholzkiste starren. Der weltweit erste Computer, der ein gespeichertes Programm ausführte, wurde 1948 vorgestellt. Noch 1977 meinten Branchenexperten, es gäbe keinen Grund, zuhause einen Computer zu haben. Der von Cutex 1917 entwickelte Nagellack eroberte erst nach dem 2. Weltkrieg die Warenhäuser und Kosmetikläden. Und der Cheeseburger, 1934 von Lionel Sternberger kreiert, musste als kulinarische Verrücktheit auch Jahrzehnte warten, um zum Verkaufsschlager zu werden. Nicht in Vergessenheit gerieten „Spätzünder“, die Ruhm und finanzielle Anerkennung noch erleben durften. Wie Lothar Späth, 13 Jahre MP in Baden-Württemberg, der statt Ruhestand 1991 die Geschäftsführung des VEB Carl-Zeiss-Jena übernahm und ab 1998 als Vorstandsvorsitzender die Jenoptik AG wieder an die Weltspitze und die Börse führte. Zu nennen wären da noch Henry Ford, der im 43. Lebensalter das legendäre Modell T entwickelte, die berühmte Malerin Grandma Moses, die erst mit 78 Jahren zu Staffelei und Palette fand, und Harry Bernstein, ein erfolgloser Schriftsteller, der im Alter von 96 Jahren mit seinem Buch „The Invisible Wall: A Love Story That Broke Barriers“ die Bestseller-Listen stürmte.
Die Moral von der Geschicht? Glänzende Junior-Karrieren, wie die von Steve Jobs oder Mark Zuckerberg, verleiten rasch zur gängigen Auffassung, das Fundament für finanziell und sozial erfolgreiche Lebenslaufbahnen müsse in jungen Jahren gelegt werden. Früher Vogel fängt den Wurm. Diese Einsicht führt bei manchen zu Resignation oder gar Torschlusspanik. Nun sind aber diese Steilflüge eher die Ausnahme. Es muss ja nicht derart außergewöhnlich verlaufen, wie bei Sixto Diaz Rodriguez. Die hier skizzierten Beispiele verdeutlichen doch, dass späte Karrieren durchaus möglich sind, es oft eine zweite Chance gibt, dass noch im fortgeschrittenen Alter die erträumte Position winkt oder man dank seiner Expertise und Kompetenz eine neue Herausforderung findet, man nicht zum alten Eisen gehört. Es rostet nur der, der rastet, falls er es bemerkt. „Du schaust in den Spiegel und merkst, dass Dir was fehlt. Und spürst, dass es Deine Zukunft ist“, macht Woody Allen uns Mut.