Traurige Schwestern


Mariupol und Smyrna - zwei traurige Schwestern

 

Dieter Feige, März 2022

 

Zwei Städte in strategisch bedeutender Lage, aus geopolitischen Gründen in Schutt und Asche gelegt

 

Wie sich die Bilder gleichen! Ende März 2022, Mariupol wird seit Wochen vom russischen Militär mit Bomben und Raketen zerstört, droht dem Erdboden gleich gemacht zu werden. Einhundert Jahre zurück. September 1922, Smyrna, heute Izmir, wird von Soldaten der türkischen Armee erobert, die Brände in den christlichen und levantinischen Vierteln legen, sodass die Stadt Opfer einer schrecklichen Feuersbrunst wird. Beide Städte teilen ein gleiches, grausames Schicksal. Aber auch die Ursachen, die zu diesen Katastrophen führten, weisen gewisse Parallelen auf. Deshalb drehen wir das Rad der Geschichte erst einmal zurück und vergewissern uns.

 

Die Keimzelle von Smyrna war eine vor sechs- bis viertausend Jahren gegründete vorhellenische Siedlung, die später von dem griechischen Stamm der Ionier übernommen wurde. Dieses alte Smyrna war wegen seiner strategischen Lage an der kleinasiatischen Küste der Ägäis eine bedeutende Hafenstadt in der griechischen Antike, leicht zu verteidigen sowie an der Handelsroute bis nach Persien gelegen. Alexander der Große ließ am Ort ein neues Smyrna errichten, das sich in der Zeit des Römischen Imperiums zur Metropole entwickelte. Wegen seiner enormen Bedeutung als Handelsknotenpunkt wurde Smyrna im Laufe der Zeiten vielmals erobert, zerstört und wieder aufgebaut. Seit Ende des 15. Jahrhunderts gehörte die Stadt den osmanischen Herrschern und war von Moslems, alteingesessenen Griechen und ab Anfang des 16. Jahrhunderts von Juden bewohnt, die aus Spanien vertrieben wurden und dort eine neue Heimat fanden. Anfang des 17. Jahrhunderts zogen viele Armenier in die Stadt, die den Handel mit Waren aus Persien, vor allem mit der begehrten Seide, bis nach Marseille und Amsterdam betrieben. Ein buntes Völkergemisch mit drei Religionen beherbergte Smyrna, das in der Stadt verteilt in jeweils eigenen Wohnvierteln der muslimischen Türken, der Juden, der orthodoxen Griechen, der christlichen Armenier, der Levantiner und Europäer lebte und seiner Arbeit und seinen Geschäften nachging. Der Stadt mit ihrem friedlichen eurasischen Miteinander, das Smyrna ein besonderes Flair verlieh und zu Wohlstand verhalf, stand aber im Zuge des Türkisch-Griechischen Kriegs (1919 - 1922) der Untergang bevor.

 

Mit Ende des Ersten Weltkriegs existierte das Weltreich der Türken nicht mehr, die Entente-Mächte, England und Frankreich vor allem, besetzten die vormaligen Territorien des Osmanischen Reichs. Das reizte die Griechen, sich auch in Kleinasien Gebiete einzuverleiben. Endlich war die Zeit für die „Megali Idea“ gereift, ein pangriechisches Großreich, das alle in der Antike besiedelten Gebiete vereinigen sollte. Der Feldzug der Griechen mit rund 200.000 Soldaten rückte bis Ankara vor, um dieses „Byzantinische Reich“ wieder auferstehen zu lassen. Mit Billigung des britischen Premiers David Lloyd George fand auch eine militärische Aktion in der Region Smyrna statt, weil die Hälfte der 700.000 Einwohner griechisch-orthodoxe Christen und folglich in dieser patriotischen Auslegung Griechen waren. 1921 stand Smyrna unter griechischer Besatzung. Nun wendete sich aber das Blatt, weil Mustafa Kemal Atatürk mit der Armee der türkischen Nationalversammlung eine Gegenoffensive startete und die Griechen bis zur Küste bei Smyrna zurücktrieb. Dort verließen sie im Schutz britischer, französischer, italienischer und amerikanischer Marine Kleinasien. Am 9. September 1922 rückten türkische Truppen in Smyrna ein. Ungeachtet des verhängten Kriegsrechts kam es zu Plünderungen armenischer und griechischer Geschäfte sowie zu Massakern an Griechen und Armeniern durch türkische Einwohner von Smyrna und türkisches Militär. Am 12. September 1922 wurde im Viertel der Armenier und Levantiner von türkischen Soldaten Feuer gelegt, das diese Viertel völlig zerstörte. Türkische und jüdische Viertel blieben von der Feuersbrunst verschont. Zehntausende starben im Hafen. Aus den niedergebrannten Vierteln wurden schätzungsweise bis zu 400.000 Christen vertrieben, die erst Wochen später von der griechischen Flotte nach Griechenland gebracht wurden. Plünderungen und Massaker „rechtfertigten“ die Türken als Vergeltung für griechische Gräueltaten. Den Entente-Mächten blieb später der Vorwurf nicht erspart, nicht sofort zur Hilfe geeilt, zu lange tatenlos zugeschaut zu haben. Bis heute gibt es zwei offizielle Sprachregelungen der beiden NATO-Partner für dieses Inferno. „Kleinasiatische Katastrophe“, so seitens der Griechen, „Befreiungskrieg“ in türkischer Sichtweise. Bis heute heißt das türkische Izmir in Griechenland Smyrna.

 

Die Hafenstadt Mariupol am Asowschen Meer entstand im Jahr der Französischen Revolution 1789 und war bis ins 20. Jahrhundert mehrheitlich von Menschen griechischer Herkunft bewohnt, so wie der griechische Name, Stadt der Maria, es verrät. Historisch war sie das Zentrum der Griechen in der Ukraine, die als Minderheit noch in der Stadt leben, die sich zu einer wichtigen Hafenstadt entwickelt hat, Sitz einer renommierten Universität und mit rund 440.000 Einwohnern der Wirtschaftsstandort der Region Donezk ist. Der Hafen ist der Umschlagsplatz für Getreide und Stahl aus der Ostukraine. Die beiden Stahlwerke produzieren den größten Anteil des Stahlbedarfs in der Ukraine. Nach der Annexion der Krim 2014 verlangten prorussische Kräfte aus der Stadt ein Referendum a la Krim, das über den Verbleib in der Ukraine oder die Aufnahme in die Schutzmacht Russische Föderation entscheiden sollte, also zwischen der verhassten Regierung in Kiew oder der geliebten Heimat. Dieser Vorstoß löste einen bürgerkriegsähnlichen Kampf zwischen Volksmilizen und dem ukrainischen Militär aus. Durch die plötzliche Kehrtwende lokaler Oligarchen zugunsten Kiew verblieb Mariupol im Staat Ukraine. 2015 erfolgte ein Raketenangriff prorussischer Rebellen, dem mit einer Gegenoffensive des dort ansässigen paramilitärischen Asow-Regiments begegnet wurde, die erst endete, als wichtige Positionen im Nordosten der Stadt eingenommen waren.

 

Seit dem 24. Februar 2022 liegt Mariupol unter ständigem Beschuss der russischen Streitkräfte aus der Luft und von See. Zudem ist die Stadt von russischen Truppen belagert, um sie einzunehmen. Laut Angabe des ukrainischen Militärs sind bereits 80 Prozent der Infrastruktur stark beschädigt oder zerstört, es gäbe einen erheblichen Mangel an Wasser, Nahrungsmitteln und Medikamenten. Zigtausende Menschen hätten die Stadt verlassen können, über 200.000 Einwohner wären aber noch in Mariupol eingeschlossen. Täglich erreichen uns Bilder, die das Ausmaß der Zerstörungen zeigen, darunter auch zivile Einrichtungen wie Schulen, Krankenhäuser und Kulturinstitute. Zahlen können nicht überprüft werden, Bildern kann man nur Glauben schenken. Es ist eine Momentaufnahme, da wir nicht abschätzen können, wann und unter welchen Umständen die Waffen schweigen werden. Klar ist uns aber schon jetzt, warum die Einnahme von Mariupol mit dieser Unerbittlichkeit und Massivität der Bomben- und Raketenangriffe vorangetrieben wird. Es erlaubt sich, hier den Vergleich mit Smyrna zu ziehen. „Heim ins Reich“, könnte man sagen. Mit dem Fall von Mariupol wäre die direkte Landverbindung von der annektieren Krim zu den separatistischen Regionen im Donbass hergestellt. So äußerte sich Kirill Stepanow, von Putin ernannter stellvertretender Beauftragter für den Föderationskreis Südrussland, der Staatsagentur Ria Nowosti gegenüber. Sobald die Fernstraße M14 unter russischer Kontrolle ist, besteht diese sichere Landverbindung, die in Odessa beginnt, über das von russischen Truppen bereits besetzte Cherson nach Mariupol führt, von dort über die Grenze weiter nach Rostow am Don. Laut Human Rights Watch ist Mariupol eine „Eiskalte Höllenlandschaft voller Leichen und zerstörter Gebäude". Sicher hätte Putin lieber eine intakte Infrastruktur und bewohnbare Stadt einnehmen lassen, doch er wird billigend die totale Zerstörung in Kauf nehmen, um dieses taktische Kriegsziel zu erreichen. Die letzte Nachricht vom 25. März 2022 aus Russland bestätigt diese Einschätzung, nunmehr viele Truppeneinheiten zum Donbass zu verlegen, um den Donbass in vaterländischer Pflicht zu befreien.

 

Smyrna und Mariupol sind beide „Bauernopfer“ auf dem Schachbrett patriotischer und geopolitischer Interessen. Die Anlässe zur Zerstörung sowie die Vertreibung bestimmter Einwohnergruppen sind die gleichen, eine Art „Reconquista“, die oft in der Weltgeschichte stattgefunden hat. Nur die Mittel, die zur Liquidierung dieser Städte führten bzw. noch führen, sind der Militärtechnologie ihrer jeweiligen Epoche geschuldet, Feuersbrünste mithilfe Benzins damals, Bomben, Raketen, Artillerie heute.

 

 

 

Smyrna Wikipedia
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Smyrna Wikipedia
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Mariupol euronews
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Mariupol Tagesschau
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