Soweit die Füße tragen


 

„So weit die Füße tragen.“

 

Metapher des Schicksals von Menschen auf der Flucht, aber auch Aussicht auf eine zweite Heimat

 

Dieter Feige, März 2022

 

Seit dem 5. Mai 1945 schwiegen die Waffen in Europa, den Überlebenden des grausamen Kriegs wurde Frieden verheißen. Mit der Auflösung der Sowjetunion schließlich wurde das Ende des „Kalten Kriegs“ eingeläutet, das die Hoffnung auf Kontinuität des friedlichen Miteinanders auf dem Kontinent kräftig nährte. Seit dem 24. Februar 2022 indes sprechen wieder die Waffen, als russische Truppen in die Ukraine eindrangen und den ersten militärischen Konflikt seit Kriegsende in Europa auslösten. Nach mehr als 75 Jahren sind seit diesem Tag wieder riesige Flüchtlingsströme in Europa unterwegs, Menschen, die mit Habseligkeit ihre Heimat verlassen, um Zuflucht in Nachbarstaaten zu finden. Schätzungsweise 3 Millionen Menschen befinden sich seit 16 Tagen auf dem beschwerlichen Weg in ein ungewisses Schicksal, um ihre körperliche Unversehrtheit und ihr nacktes Leben zu retten. Diesen Exodus und dieses Drama der letzten Kriegsmonate 1944 und der Zeit nach dem Kriegsende haben nur noch ältere Zeitgenossen in Erinnerung.

 

Die Flüchtlingsströme aus der Ukraine lösten bei mir die Erinnerung an den Roman „So weit die Füße tragen“ aus, die Geschichte des Landsers Clemens Forell, dem die abenteuerliche Flucht aus einem Gefangenenlager in Sibirien gelang und dem in drei Jahren voller Strapazen, ständiger Ungewissheit und lauernder Gefahren in einem fremden und unwirtlichen Land der Weg in die Heimat glückte. Als der sechsteilige Fernsehfilm 1959 ausgestrahlt wurde, waren die Straßen jedes Mal wie leergefegt. Warum? Weil viele der Menschen vor den Bildschirmen ähnliche Schicksale erlitten hatten, die sich in ihr Gedächtnis eingebrannt hatten. „So weit die Füße tragen“ war auch ihr tagtägliches Los, als sie vor der nahenden Roten Armee ihre Häuser, ihr Hab und Gut, ihre Heimat verließen, um sich in Sicherheit zu bringen.

 

Aus Ostpreußen, Pommern und Schlesien strömen im eisigen Winter 1944 schätzungsweise 9 Millionen Deutsche in Trecks durch verbrannte Erde Richtung Westen des Deutschen Reichs, unterernährt, schlecht gekleidet, körperlich ausgezehrt. Vielen versagten die Füße, trugen sie nicht mehr weiter. Hinzu kamen noch rund 5 Millionen Deutsche aus dem vormaligen Böhmen und Mähren, Ungarn und dem damaligen Jugoslawien, die dort vertrieben wurden. Die allermeisten fanden in der in drei Zonen besetzten Trümmerlandschaft Deutschlands inmitten einer kriegsgeschädigten Bevölkerung ein Dach über dem Kopf, Nahrung und Bekleidung. Sie beteiligten sich am Wiederaufbau, fanden Lohn und Brot und halfen mit ihrer Arbeitskraft und ihrer Expertise das Wirtschaftswunder auf den Weg zu bringen. Sie fanden ungeachtet ihrer landsmännischen Verschiedenheiten, Traditionen und Dialekten eine neue Heimat. Sie waren am Ziel ihres Loses, „So weit die Füße tragen“.

 

Was können wir aus dieser Geschichte einer schicksalshaften Integration lernen? Nicht abzuschätzen, wann, wo und wie dieser Krieg endet. Nicht abzuschätzen, wie viele Menschen aus dem Kriegsgebiet den Weg zu uns finden. Doch sollte es uns jetzt schon klar sein, dass etliche dieser geflüchteten Menschen hier bleiben, weil ihre Heimat zerstört ist, weil sie hier eine neue Existenz aufbauen möchten. Wir haben Arbeit für sie in vielen Gewerken und Branchen. Wir können sie ohne Reibungsverluste integrieren, weil Arbeit der zugkräftigste Motor für eine gelingende Integration und gesellschaftlicher Teilhabe ist. „So weit die Füße tragen“ kann in diesem Sinne ein Versprechen sein.

 

 

 

 

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