Great Fire of London
Das Große Feuer von London und die Macht der Disruption: Warum Zerstörung den Fortschritt entfacht
Ein antikes Flammeninferno als Metapher für moderne Umbrüche – und die entscheidenden Unterschiede zwischen Innovation und Destruktion.
Dieter Feige, Juni September 2019
Wenn Flammen neue Städte formen: Eine Metapher für Disruption
London, 2016. In einer U-Bahnstation fiel mir ein außergewöhnliches Poster ins Auge. Mein Zug fuhr ein, doch ich schaffte es noch, zwei schnelle Fotos mit dem iPhone zu machen. Später, auf dem Display, enthüllten sich die Details: Eine bekannte Whiskymarke warb mit lodernden Flammen – passend zur Spirituose, dachte ich. Doch der Schriftzug erzählte eine viel tiefere Geschichte: die Erinnerung an das Große Feuer von London im Jahr 1666, das vor 350 Jahren fast die gesamte City vernichtete.
Der zweite Satz des Plakats aber enthielt eine überraschende Wendung: Dieser Großbrand hatte auch etwas Gutes. Er schuf erst die Voraussetzungen für die Entwicklung zur heutigen Metropole London. „Fire has nearly destroyed our town three times. But in Fairness, it also helped build it. “ Da fiel es mir siedend heiß ein: Disruption! Ein Begriff, der damals gerade erst in den Sprachgebrauch kam. Dieses Poster war eine signifikante Metapher für diesen oft missverstandenen, nüchternen Begriff – eine Ikone, die das Geschehnis auf den Punkt bringt.
Das Stakeholder-Prinzip: Eine disruptive Wende in der Wirtschaft
Bekanntlich hat jede Medaille zwei Seiten. Das Große Feuer von London 1666 war eine Tragödie. Doch im Rückblick zeigt sich diese Katastrophe als Gewinn. Es war ein disruptiver Akt, ausgelöst durch einen Bäcker, dessen Backstube in Flammen aufging. Ob intendiert oder nicht, diese verheerende Feuersbrunst legte das Fundament für ein zeitgemäßes, auf Wachstum ausgerichtetes London. Daran besteht kein Zweifel.
Springen wir zurück in die Gegenwart, wo Disruption zunehmend jüngste Entwicklungen in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft initiiert. Eine Meldung ließ Ende August 2019 die Business-Welt aufhorchen:
200 CEOs führender US-amerikanischer Wirtschaftsunternehmen hatten sich vom Prinzip der reinen Gewinnmaximierung verabschiedet. Giganten wie Apple, Pepsi und Walmart richteten ihre Strategie nicht länger ausschließlich auf Shareholder Value aus. Stattdessen stellten sie künftig den Stakeholder in den Fokus ihres unternehmerischen Engagements. Die CEOs dieses Business Roundtable beschäftigen immerhin mehr als 15 Millionen Mitarbeiter bei einem Jahresumsatz von über sieben Billionen US-Dollar.
Stakeholder sind Personen und Gruppen – auch als Anspruchsgruppe definiert – die ein Interesse am erfolgreichen Verlauf und einem optimalen Ergebnis eines Prozesses oder Projektes haben. Dazu gehören Mitarbeiter, Kunden, Handelspartner, Zulieferer, Politik, Verbände und die breite Öffentlichkeit, lokal bis global. Dieser grundlegende Wandel kommt nicht von ungefähr. Renommierte US-Ökonomen wie Archie B. Carroll und R. Edward Freeman hatten schon Jahrzehnte zuvor Unternehmen diese Neuausrichtung im Zuge der Corporate Social Responsibility ans Herz gelegt. Nur das unternehmerische Engagement für Umwelt, Nachhaltigkeit und Sozialverträglichkeit – der ethische, ökologische und gesellschaftliche Auftritt des Unternehmens – bindet Stakeholder längerfristig an das Unternehmen. Sie fühlen sich ernst genommen, verstanden und bekunden ihre Zufriedenheit mit gefestigter Zugehörigkeit. Stakeholder sichern somit Stabilität, wachsenden Markterfolg und gesteigerte Wertschöpfung. Letzteres, weil sie im Wertschöpfungsprozess wichtige Faktoren und identitätsstiftende Kommunikatoren sind. Shareholder hingegen sind unsichere Kantonisten, die oft nur den Börsenwert im Blick haben.
Erdbeben oder Aufbruch? Die wahre Natur der Disruption
Disruption ist das passende Wort für solch einen radikalen Schnitt. Schon der Begriff löst bei vielen Angstschweiß aus. Wohingegen "Challenge", "Change" und selbst das Unruhe einflößende "Shake Up" als Prozesse wahrgenommen werden, die der Mensch in seiner Natur verankert sieht. Wettbewerb, Wandel und ein wenig Aufmischen sind gelernte Handlungsweisen.
Dabei ist Disruption ein signifikanter Prozessparameter in der Evolution. Nicht zuletzt verdankt sich der Mensch als homo erectus und später homo sapiens einem disruptiven Vorgang: Vom lokal ansässigen vierbeinigen Baumbewohner zum aufrechten und vor allem mobilen Zweibeiner. Die Ursache für diesen Quantensprung bleibt vorläufig noch ein Geheimnis der Natur. Doch ein Blick auf die jüngere Geschichte des homo sapiens zeigt uns einige höchst erfolgreiche Disruptionen.
Bestes Beispiel ist die Erfindung der funktionstüchtigen Dampfmaschine durch James Watt. Als George Stephenson sie auf Räder setzte, war dies die Geburtsstunde der Eisenbahn und zugleich die Emanzipation der Geschwindigkeit – zwei Punkte in kürzerer Zeit als mit Kutschen oder Ochsenkarren zu erreichen. Nach der Erfindung des Rades war dieses Ereignis die größte Errungenschaft im Bereich der Mobilität. Das erklärt den Siegeszug der Eisenbahn und hoffentlich ihre Renaissance im Rahmen der Beförderung von Gütern und Personen, wie es das Projekt der Neuen Seidenstraße dokumentiert. Der spätere Austausch der Dampfmaschine durch Verbrennungs- oder Elektromotoren war lediglich eine Form der Optimierung.
Disruption: Das Fenster zur Zukunft, nicht der Untergang
Disruption ist nicht Mephisto, der Faust verführen wollte, aus seiner romantischen Attitüde auszubrechen. Disruption ist auch nicht der Kometeneinschlag in Yucatán, der die erdgeschichtliche Epoche der Dinosaurier abrupt beendete. Disruption ist ein Fenster am Ereignishorizont, das den Blick in die nächste Zukunft öffnet.
Die Disruptionen der letzten Zeit im Bereich der Digitalisierung bezeugen das. Bill Gates, Steve Jobs, Jeffrey Bezos, Elon Musk sind geniale Disruptoren, die zu Beginn des 3. Jahrtausends die Meilensteine für künftige Entwicklungen gesetzt haben. Das rapide Wachstum ihrer Unternehmen und die bahnbrechenden Optimierungen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens durch ihre Produkte sind die Indikatoren, dass die richtigen Entscheidungen getroffen wurden.
Denken Sie auch an Christoph Kolumbus, der fest an die Kugelform der Erde glaubte, um die westliche Schiffsroute nach Indien zu erkunden. Als er Anker warf, hatte sich sein Glaube bewahrheitet. Dass ihm die Neue Welt im Wege lag, konnte er nicht ahnen. Somit ist er sogar über sein Ziel hinausgeschossen und hat einen Kontinent entdeckt, der nicht "auf der Scheibe" lag.
Die Rolle des Disruptors: Leidenschaft, Führung und Weitsicht
Disruption erfordert Menschen, die befähigt sind, diesen Prozess zu initiieren, zu betreuen, zu managen, konsequent durchzuziehen und jeweils die richtigen Weichen zu stellen, um auf Spur zu bleiben. Sie müssen Leidenschaft freisetzen und alle Prozessbeteiligten überzeugend auf diese Strecke mitnehmen.
Disruption braucht aber keine Übermenschen. Die Fähigkeiten, die eine Führungskraft benötigt, um ihr Unternehmen oder ihre Organisation disruptiv für die Zukunft zu ertüchtigen, schlummern in den meisten Menschen in leitenden Funktionen. Da sie in herkömmlichen Prozessen und Projekten nicht benötigt werden, müssen sie einfach aktiviert werden.
Was imponiert an Kolumbus? Seine Courage und sein Credo, ungeachtet aller Irritationen, Widerstände und Volatilität unbeirrt und überzeugend den Weg anzutreten und sein Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Diese Fähigkeiten sind der Kern seiner Führungspersönlichkeit. Das ist eine Gemengelage aus kühler Rationalität und emotionaler Hingabe – also Verstand und Passion. Er ist in diesem Prozess der leitende Humanagent, der andere motiviert, begeistert und mitnimmt. Nicht der qua seines Amtes agierende Treiber, sondern der Leader abseits klassischer Hierarchien. Nicht der Kapitän auf der Brücke, der weitsichtig Order an den blickdichten Maschinenraum gibt. Er skaliert hierarchisch, auf gleicher Augenhöhe, vermittelt Sinn und Orientierung des Prozesses und Zugehörigkeit. Er besitzt Kommunikationsstärke, beeindruckt durch aufmerksame Offenheit, punktet mit glaubwürdiger Teamfähigkeit und ist für Kritik zugänglich. Mit ihm könnte man sprichwörtlich Pferde stehlen.
Achtung vor den "Interruptiven": Die dunkle Seite des Bruchs
Doch Vorsicht vor den „Disruptive Personality Types“. Damit bezeichnet man Menschen mit egomanischen, paranoiden, hysterischen, narzisstischen Charakterzügen, die meist aggressiv agieren und kommunizieren sowie despotisch auftreten. Dieser Typus hat aktuell in der Politik leider wieder Konjunktur. Denken wir nur an Donald Trump, Boris Johnson oder Viktor Orban.
Das "Disruptive" in ihren Aktivitäten erweist sich bei näherer Betrachtung vielmehr als interruptiv und eruptiv – ebenfalls Modi des Bruchs, aber mit extrem negativen Folgen.
- Interruptiv: Sie brechen Verträge, steigen aus multilateralen Abmachungen aus, unterbrechen den im Diskurs gewonnenen Konsens, torpedieren abgestimmte Agenden und gefallen sich in dieser Rolle der Unberechenbarkeit.
- Eruptiv: Ihr öffentlich zur Schau gestelltes Kommunikationsgebaren könnte ein Betätigungsfeld für Vulkanologen und Seismologen abgeben. Hier sind beispielsweise Trump und Johnson, aber auch Matteo Salvini tonangebend. Eruptiv sind aber auch die Beschlüsse und Entscheidungen, die sie wider allen Konsens und vertraglichen Verpflichtungen treffen. Das mag für manche Zeitgenossen eine Entertainmentqualität besitzen. Doch Regelbruch und Rabulistik, wie Trumps über Nacht angeordnete Handelskriege und seine Beleidigungen politischer Gegner, fördern nicht Wachstum und Wohlstand – sie führen in Krisen und Katastrophen. Diese Leader sind Scharlatane, falsche Propheten und Betrüger.
Die Herausforderung annehmen: Disruption gestalten
Angesichts dieser Entwicklungen ist es unsere Pflicht, uns neu aufzustellen und zu positionieren, um diesen fatalen Entwicklungen einen Riegel vorzuschieben. Mit ausgefeilten Konzepten und neuen Strategien können wir Herr der Lage bleiben und diesem Spuk ein Ende setzen.
Disruption ist keine Aufgabe für Egomanen und narzisstische Despoten. Dschingis Khans kurzlebiges Imperium war eine Blase. Oder Nero, der sich auf der Flucht feige erdolchte. Nein, Disruption ist eine Herausforderung, die gemeistert werden kann. Wie von Apollo 11 mit Neil Armstrong, Buzz Aldrin und Michael Collins. Der große Schritt für die Menschheit – echte Disruption führt zu echtem Fortschritt.

