Big Quit


Freiwillige Massenflucht aus den Jobs ins Private - Eine unerwartete Nebenwirkung der Pandemie

 

Seit April 2021 haben bereits fast 20 Millionen Arbeitnehmer in den USA ihre Jobs freiwillig an den Nagel gehängt, darunter viele Berufstätige, ohne dass sie eine berufliche Anschlussperspektive haben, und zwar in fast allen Branchen. Rund 10 Millionen offene Stellen in den USA sind deshalb aktuell unbesetzt. Eine Nachricht inmitten der Pandemie, die in der Flut von täglichen Hiobsbotschaften auch in Deutschland kaum wahrgenommen wurde, die aber die Alarmglocken schrillen lässt, weil die Tendenz ansteigt und dieser plötzlich eingetroffene Kündigungstsunamie schon weltweit, auch in Europa, zu beobachten ist. McKinsey hat schon im September die erste Studie zu diesem Ereignis publiziert und aktuell mit einem Pop Quiz die Personalmanager angeregt, weil die Zeit drängt, um probate Lösungen zu entwickeln. Die Beweggründe für diesen Aderlass, der sich viral wie die Covid-Varianten ausbreitet, müssen im Zusammenhang mit der Pandemie stehen. Als disruptives Phänomen, dass plötzlich scharenweise die Arbeitskräfte davonlaufen, fällt dieser „Big Quit“ unter die „Black Swan Theorie“ (von Nassim Nicholas Taleb, Finanzmathematiker, 2001). Black Swan, ein unerwartetes Ereignis, von Beobachtern nicht vorhergesagt, das indes massive Folgen nach sich zieht. Was aber sind die Anlässe und Motive der Kündigungen en masse? Der kulturelle Mythos der US-Arbeitsmarktgeschichte, die Menschen bleiben lange, bisweilen ein Arbeitsleben lang, ihren Jobs treu, ist wie ein Traum zerplatzt und nicht länger nostalgische Rückversicherung.

 

McKinsey hat in einer groß angelegten Umfrage, die sich neben den USA auf Australien, Großbritannien, Kanada und Singapur erstreckte, die Stimmungslage der Arbeitnehmer und die Beweggründe für diese „Big Resignation“ ermittelt. In Schlaglichtern ergibt sich folgendes Bild:

 

·       In den letzten sechs Monaten (bis September 2021) haben 36 Prozent ohne einen neuen Job gekündigt.

·       Rund 40 Prozent haben ernsthaft vor, in den nächsten drei bis sechs Monaten zu kündigen.

·       Davon beabsichtigen 18 Prozent ihre Kündigung mit hoher Wahrscheinlichkeit.

·       Zwei Drittel der Kündigungswilligen quittieren ihren Job, ohne eine neue Stelle anzutreten.

 

Die Ursachen dieser Fluktuation - Ein radikaler Sinneswandel im traditionellen Arbeitsethos

Diese Situation ist schon besorgniserregend, zumal ein Ende dieser Welle bzw. eine Rückläufigkeit dieser Entwicklung nicht abzusehen ist. Für die Unternehmen stellt sich somit die bange Frage, wie man dem entgegenwirken könne. Normale transaktionale Belohnungsmuster und andere Formen der Mitarbeiterbindung haben hier offensichtlich versagt. Nun, die Anlässe, den Job zu schmeißen, kann laut Umfrage in einem Begriff kondensiert werden: Mangelnde Wertschätzung, also ein rein „menschlicher“ Aspekt mit etlichen Facetten. Mangelnde Wertschätzung durch das Unternehmen beklagen 54 Prozent, seitens ihrer Vorgesetzten 52 Prozent. Sich der Arbeit nicht zugehörig fühlen reklamieren 51 Prozent. Neben der persönlichen Wertschätzung ihrer Arbeit von Unternehmen und Managern wünschen sich die Arbeitskräfte eine stärkere soziale und zwischenmenschliche Bindung zu Kollegen und Vorgesetzten, also Interaktionen anstelle von Transaktionen wie Boni oder bessere Bezahlung. Durch diese interpersonale „Beziehungsarbeit“ erhoffen sie sich eine gemeinsame Identität als Fundament für einen erneuerten Sinn ihrer Arbeit, die auch ein überarbeitetes Verständnis von Autonomie und Flexibilität in ihrem Arbeitsprozess bedingt. Wird diese Erwartungshaltung nicht befriedigt, planen viele der Befragten, sich von der klassischen Vollzeitbeschäftigung zu verabschieden.

 

Der Paradigmenwechsel im Wertekanon dieser Arbeitnehmer ist den Erfahrungen in der Pandemie geschuldet. Ohne psychologische Expertise ist doch erkennbar, dass der pandemiebedingte Stress in etlichen Branchen zu Abnutzungserscheinungen geführt hat, sie sind ausgebrannt. Andere haben ihre Arbeit in einer „Fernbeziehung“ im Homeoffice durchgeführt, mussten folglich aus dem Stand eine neue Work-Life-Balance entwickeln. Vor allem aber haben die mit der Bekämpfung der Pandemie verhängten Auflagen die sozialen Kontakte arg reduziert, die Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs erschwert und somit den Fokus auf das Wohlergehen von Familie, Angehörigen und Nachbarn gerückt. Dieser abrupte Sinneswandel hat auffällige Parallelen zu den Einstellungen der Gen Z, nur am Rande bemerkt.

 

Die klassischen Auffangnetze sind gerissen - Integrative Lösungen sind gefordert

Was tun? McKinsey bietet einen Quicktest an, um in vier Schritten herauszufinden, welche Mittel aus dem Instrumentenkasten helfen, Mitarbeiter bei der Stange zu halten. Die Balance steht auf der Kippe. Schnell ist feststellbar, dass transaktionale Angebote in Richtung „Leave“ führen. Was sagen die Befragten? 45 Prozent, die gekündigt haben, wollen sich um die Familie kümmern. Ähnlich hoch ist der Anteil der Kündigungswilligen an familiärer Betreuung. Sprich, Kinderbetreuung und Pflegedienste sind gefragte Angebote der Wertschätzung. Des Weiteren wünschen sich viele Mitarbeiter Jobs mit Entwicklungsmöglichkeiten und besseren Karrierewegen. Diesen Wünschen entgegenzukommen, gibt es wirksame Beispiele. Ein US-Unternehmen bindet Mütter mit Kinderbetreuung vor Ort und weiteren Angeboten für Eltern. Eine Restaurantkette bietet eine Karriereleiter für Grillpositionen an. Vom Grilloperator über den Master-Grilloperator bis zum Rockstar-Grilloperator oder „Elvis of the Grill“ ist die Aufstiegsmöglichkeit vorgezeichnet. Um das Gemeinschaftsgefühl, also die Konnektivität als soziale Resonanz, ohne räumliches Zusammensein in der Pandemie zu pflegen, bietet ein Unternehmen integrative Aktionen wie Online-Familienspieleabende bei angelieferten Chips und Salsa an oder einen virtuellen Spa-Tag mit Gesichtsmasken, Tee und Schokolade. Unternehmen beschreiten also neue Wege, horchen in ihre Mitarbeiter hinein und realisieren sinnvolle Maßnahmen. So kann der großen Abwanderung mit einer großen Anziehung entgegengesteuert werden. Krisen bieten Chancen. Diese jetzt zu ergreifen, kann sich als Wettbewerbsvorteil erweisen, Arbeitskräfte zu binden sowie Talente zu entwickeln, um in der post-pandemischen Zeit personell gut besetzt wieder Fahrt aufzunehmen.

 

In Deutschland ist dieser Trend noch nicht auf dem Radar, indes ist das Nachbarland Schweiz bereits von diesem Exodus „infiziert“. Erkennbar ist jedoch hier ein Rückzug aus der Erwerbstätigkeit durch vorgezogenen Ruhestand. Auch gibt es Anzeichen für den Trend, die Lebensplanung zu überdenken. Angesichts des Fachkräftemangels ein Horrorszenario. Anlässe genug, sich proaktiv aufzustellen. Hier gilt das Wort des Dichters Ovid. „Wehre den Anfängen! Zu spät wird die Medizin bereitet, wenn die Übel durch langes Zögern erstarkt sind.“

 

Link zum Beitrag von McKinsey „Can you turn attrition into attraction?”

 

https://www.mckinsey.com/business-functions/people-and-organizational-performance/our-insights/pop-quiz-can-you-turn-attrition-into-attraction?cid=other-eml-dre-mip-mck&hlkid=8a2cad5fa3ba4b3ba3f7cb5ba6f7f7c4&hctky=10439480&hdpid=06d898f6-c527-4422-b16d-5ec81c60516d

 

 

 

 

McKinsey Quarterly, December 16, 2021
McKinsey Quarterly, December 16, 2021


(McKinsey Quarterly, December 16, 2021)
(McKinsey Quarterly, December 16, 2021)


(McKinsey Quarterly, December 16, 2021)
(McKinsey Quarterly, December 16, 2021)


(McKinsey Quarterly, December 16, 2021)
(McKinsey Quarterly, December 16, 2021)


(McKinsey Quarterly, December 16, 2021)
(McKinsey Quarterly, December 16, 2021)