Eisenbahnkanonen
Die Wiedergeburt der Eisenbahnlafette? Nordkoreas Raketenzüge geben Rätsel auf
Ein vergessener Riese kehrt zurück – oder ist es ein Bluff?
Dieter Feige, Oktober 2021
Wir kennen das: Allmorgendlich vertreibt die mediale Flut den Schlaf aus den Augen. Vor einiger Zeit las ich eine Schlagzeile, die mich stutzen ließ: „Nordkorea testet mobile Abschussrampe.“ Erstmals, so die Meldung, seien erfolgreich ballistische Raketen von einem Zug abgefeuert worden. Die staatliche Nachrichtenagentur Korean Central News Agency berichtete, die Raketen hätten im Rahmen einer Übung in einer zentralen Bergregion des Landes von einem auf Eisenbahnschienen transportierten Waffensystem gezündet und ein Seeziel in 800 Kilometern Entfernung getroffen. Der Sekretär der Arbeiterpartei, Pak Jong Chon, wurde zitiert: Dieses System sei ein taktisches Element einer neuen Verteidigungsstrategie. Das „Raketensystem auf Zügen dient als wirksames Mittel des Gegenangriffs“ sei „Teil einer neuen Verteidigungsstrategie, um besser Mehrfachschläge ausführen zu können“, mit dem Ziel, eine „Raketenbrigade auf Zügen zu einem frühen Zeitpunkt in der Zukunft“ einzurichten.
Donnerwetter, dachte ich mir! Endete doch meines Wissens die Epoche der Eisenbahngeschütze mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Nun verschafft sich der Zwergstaat Kim Jong-uns regelmäßig globale Aufmerksamkeit. Doch jetzt die Wunderwaffe einer Mittelstreckenrakete auf Schienen, die sogar ihr Ziel trifft? Das gab Anlass, noch einmal genauer hinzusehen – wie es anfing mit der schienengängigen Artillerie, und vor allem, welche Gründe dazu führten, diesen Gefechtsmodus aufzugeben. Schließlich ist diese heroische Ära der Eisenbahnartillerie ein recht interessantes Kapitel der Eisenbahngeschichte, da der Wunsch der Militärs, immer stärkere Kanonen auf Zügen zu transportieren und zum Abschuss zu bringen, überdies zu vielerlei technischen Innovationen in Hinsicht auf Schwergütertransporte und Gleisbau geführt hat.
Der unaufhörliche Siegeszug der Eisenbahngeschütze: Von Grant bis Porsche
Den Anfang setzte General Grant im amerikanischen Bürgerkrieg (1861-1865), indem er Mörser, den schwersten namens „Dictator“, auf ein vierachsiges Fahrgestell montieren ließ. Auf dieser Plattform war noch Platz für die 200 Pfund schweren Kugeln, die mit 20 Pfund Pulver zum Abschuss gebracht wurden. Zu dieser Lafette, die von einer Lokomotive in Richtung feindliche Stellungen befördert wurde, gehörte ferner ein Waggon für die Artilleristen. Nahe am Feind angekommen erfolgte der Beschuss, dann ging’s wieder zurück. Der Vorteil dieses „new element in strategy“ (Grant) war der schnelle Transport über die vorhandenen Bahngleise anstelle der mühseligen Beförderung meist offroad mittels Pferdekarren.
Die Lafette auf Schienen wurde in Europa ab 1870 begeistert aufgegriffen. Da feindliche Invasionen auch von See in den militärischen Planungen bis zum Ersten Weltkrieg eine große Rolle spielten, wurden zur Verstärkung der Küstenfestungen mit schwerer Küstenartillerie zunehmend Eisenbahngeschütze hinzugezogen. Mit diesen nunmehr schienengängigen Schiffskanonen mit Kalibern von 20 bis 28 Zentimetern erhofften sich die Militärs erhöhte Feuerkraft, um einer Invasion mithilfe der zügig auf Schienen zur Landungsstelle des Feindes beförderten Kanonen entgegenzuwirken. Die strategische Mobilität war entscheidend, da sie eine schnelle Verlegung von enormer Feuerkraft erlaubte, die sonst nur langsam oder gar nicht transportiert werden konnte.
Die Artillerie gewann als Fernkampfmittel zur Zerstörung von Festungsanlagen und Bunkern zunehmende Bedeutung. Durch metallurgische Innovationen – das heißt bessere Stähle –, die Herstellung der Geschützrohre mit Präzisionsmaschinen sowie leistungsstärkere Treibmittel wie Nitroglyzerin, wurden die Kanonen bei vergrößerter Reichweite leichter. Das regte natürlich zum Bau größerer Schienengeschütze mit weitaus mehr Gewicht als die Lokomotiven an und verlangte den Waggonherstellern einiges ab, die Lafetten auf Schienen für ungleich höhere Achslasten sowie den extremen Rückstoß beim Abschuss auszurichten. Zum Technologieführer im Mix von Geschütz-, Waggon- und Gleisbau avancierten in dieser Epoche die französischen Konstrukteure, sodass sie in der Schlussphase des Ersten Weltkriegs mit einer Vielzahl an gestaffelten großkalibrigen Eisenbahngeschützen der Deutschen Wehrmacht große Verluste zufügen konnten. Genannt sei hier die Canon de 320. Mit dem von Krupp auf die Schnelle gebauten „Langen Max“ mit Kaliber 38 sollte die Wende erfolgen. Zwar eröffnete dieses Geschütz, weit hinter der Front aufgestellt, 1916 die Schlacht von Verdun, doch der Einsatz schwerer schienengebundener Kanonen kam zu spät. Auch deshalb, weil die von Generalfeldmarschall Alfred Graf von Schlieffen eigens für Schwertransporte geplante Kanonenbahn durch das Ahrtal nach dem Jahrhundertwasser 1910 nicht mehr weitergebaut wurde und somit die kurze Verbindung nach Frankreich nicht zustande kam (siehe hierzu: „Das Ahrtal 1910 und 2021“).
Eine geniale „Zweifachlösung“ – Transport auf Straße und Schiene – waren während des Ersten Weltkriegs die deutschen Motorhaubitzen „Barbara“ und „Gudrun“. Mit Kaliber 38 Zentimeter rund 82 Tonnen wogen sie und wurden deshalb für den Transport in Rohr, Lafette und Bettungshälften zerlegt. An Ort und Stelle konnten sie mit Winden rasch zusammengefügt werden. Jedes Fahrzeug hatte einen Zugwagen, auf dem ein Benzinmotor von 150 PS den Generator betrieb, der den Strom für die elektrischen Radnabenmotoren des Fahrzeugs erzeugte. Diese Antriebslösung ersann der junge Ferdinand Porsche, mit der enorme Steigungen auf der Straße (bis 25 Prozent) und auf der Schiene (bis 9 Prozent) bewältigt werden konnten. Durch den schnellen Austausch der Räder erfolgte der Transport zu den Einsatzgebieten auf Schiene, dann ging es weiter auf Rädern zu den bis auf 1.400 Metern hoch gelegenen Stellungen. Diese Ingenieursleistung unterstrich die Notwendigkeit von Flexibilität im Gelände und die innovative Kraft, die durch militärische Anforderungen freigesetzt wurde.
Die schwersten Eisenbahngeschütze der Welt – Ein Fiasko und ein Technologieschub
Das Manko des Ersten Weltkriegs, das Fehlen von Schwerstartillerie, veranlasste die Wehrmacht in den 1930er-Jahren, mit hochwirksamen Geschützen für den Schienentransport aufzurüsten. Krupp brachte mit der „K 12“ eine Präzisionskanone mit einer Reichweite von knapp 90 Kilometern auf die Schienen, dazu gesellten sich ab 1936 das Schienengeschütz „Bruno“ in verschiedenen Varianten mit Gewichten von 130 bis 150 Tonnen sowie „Leopold“ und „Siegfried“. Dem „Bruno“ mit fast 17 Metern Rohrlänge dienten als schienengebundene Lafette zwei fünfachsige Drehgestelle, gezogen von einer 40-Tonnen-Diesellokomotive.
Nun hatten sich indes die Kriegsszenarien verändert. War der Erste Weltkrieg noch ein infanteristischer Stellungskrieg, so erfolgte der Zweite Weltkrieg als Bewegungskrieg (Blitzkrieg) mit Panzern und Luftwaffe. Schwerstartillerie hatte folglich gemäß ihrer Schwerfälligkeit eine nachrückende Funktion. Feindliche Luftaufklärung im weiteren Kriegsverlauf erschwerte die Tarnung der Eisenbahngeschütze, und gezielte Luftangriffe zerstörten die Bahngleise. Hinzu kam, dass die Wehrmacht zunehmend auf ballistische Raketen als „Wunderwaffen“ setzte, die eine nie dagewesene Reichweite und Zerstörungskraft versprachen, ohne die Verwundbarkeit einer Schieneninfrastruktur.
Somit blieben die in die schweren Schienengeschütze gesetzten Erwartungen aus, sie wurden selten eingesetzt, verschossen ihr Pulver kaum. Letzter Akt dieser Gigantomanie war „Dora“ mit 80-er-Kaliber, von Krupp 1941 fertiggestellt. Dieses Geschütz der Superlative wog 1.350 Tonnen, die jeweilige Achslast auf acht Spezialfahrgestellen mit insgesamt 40 Achsen auf zwei parallelen Gleisen betrug 33 Tonnen. Für den Einsatz vor Ort war der Bau von drei separaten Gleiswegen, ein Gleis nur für den Munitionstransport, mit einer einen Kilometer langen zweigleisigen Schießkurve erforderlich. Drei bis sechs Wochen nahmen die aufwändigen Gleisbauarbeiten mit rund 2.500 Mann in Anspruch. Es gab nur einen Kampfeinsatz mit 42 Schüssen bei der Belagerung Sewastopols im Juni 1942.
Mit „Dora“ endete die Epoche der schweren Eisenbahngeschütze. Es waren zweifellos technologische Meisterwerke, die allerdings nach dem Zweiten Weltkrieg angesichts der neuen Waffensysteme aus der Luft und in der Folge der Raketenwaffen keine militärische Existenzberechtigung mehr besaßen. Jedoch waren sie gewinnbringend für die Eisenbahntechnik, die im Zuge der Entwicklungen dieser Monster auf Schienen erheblich an Know-how im Bereich schwerster Lasten, spezialisierter Gleisanlagen und mobiler Plattformen profitiert hat.
Renaissance oder Propaganda? Nordkoreas neue „Wunderwaffe“ – Ein Fazit
Aus dieser historischen Sicht ist es nun erstaunlich, dass die schienengebundene Lafette als mobile Abschussrampe für Raketen in Nordkorea eine Renaissance erleben soll. Ist das verblüffend, oder ein propagandistischer Bluff aus dem Reich der Familie Kim? Außer dem Foto und der Meldung gibt es bis heute keine belastbaren Indizien für diese Novität. Die Herausforderung für solche Systeme liegt in ihrer Verwundbarkeit gegenüber Luftangriffen und der Abhängigkeit von einer intakten Bahninfrastruktur, was sie in modernen Konflikten zu einem Hochrisiko-Ziel macht.
Das heißt also, die weitere Entwicklung gelassen abwarten. Halten wir es mit Wilhelm Busch, der schon wusste: „Stets findet Überraschung statt, da, wo man’s nicht erwartet hat.“
Was denken Sie: Angesichts der Geschichte der Eisenbahnartillerie, wie realistisch ist ein militärischer "Comeback" von Raketenzügen in modernen Kriegsführungsszenarien? Welche Rolle könnte die Eisenbahninfrastruktur in zukünftigen Konflikten spielen, jenseits der Waffenträger?
Ihr Dieter Feige




