Das Ahrtal 1910 - 2021
Das Ahrtal - 1910 und 2021
Dieter Feige, September 2021
1910 - Jahrhunderthochwasser
"Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich“, so Mark Twain. Wie die nachfolgende Geschichte zeigt, ereignete sich diese Weisheit mit dem Jahrhunderthochwasser 2021 nach genau 111 Jahren im Ahrtal. Ein Bogen von heute zu damals. Denn diese schreckliche Hochwasserkatastrophe dort lässt an ein ähnliches Geschehen erinnern, das sich im Juni 1910 zutrug, 52 Menschen, die meisten davon osteuropäische Bahnbauarbeiter, das Leben kostete und das Ahrtal auf 37 Stromkilometern in knapp acht Stunden verwüstete. Das verheerende Jahrhunderthochwasser 1910 markiert aber zugleich auch den ersten von drei Wendepunkten, die das wohl kühnste Projekt der deutschen Eisenbahngeschichte letztlich scheitern ließen, den Bau der „Ruhr-Mosel-Entlastungslinie“. Im Zusammenhang mit dieser historischen Tatsache, der unvollendeten Bahnstrecke, zeigt diese Geschichte des Weiteren, welche Bedeutungen und welche Nutzbarkeiten die fertiggestellten Tunnel im weiteren Verlauf der Historie noch gefunden haben. Zu den Ereignissen.
1904 - Kriegsvorbereitungen
Kanonenbahn
1871 fielen Elsass und Lothringen mit ihren Eisenerzvorkommen an das Deutsche Kaiserreich. Dieser Kriegsgewinn bot die Chance, diese Industrieregion mit dem 500 Kilometer entfernten Steinkohlerevier Ruhrgebiet zu verbinden. Doch das bestehende Streckennetz reichte nicht her, die erwarteten hohen Kapazitäten zu befördern, das Erz Minette an die Ruhr und den Koks nach Lothringen. Eine neue Strecke, die „Ruhr-Mosel-Entlastungslinie“, sollte zweigleisig von Neuss über Liblar (heute: Erftstadt) und weiter durch das Ahrtal bis Trier zum Anschluss an das Saarland und Elsass-Lothringen führen. Auch gab es einen zweiten triftigen Grund für diese Entlastungs-strecke. Neben dem wirtschaftlichen Aspekt, so der preußische Generalfeldmarschall Alfred Graf von Schlieffen, der schon damals weitsichtig einen Zweifrontenkrieg mit Frankreich und Russland kommen sah, sollte diese Streckenführung ferner dem schnellen Austausch von kriegsrelevanten Gütern und dem Truppentransport an die französische Grenze dienen, wurde daher auch Kanonenbahn genannt.
Zum Netz dieser vier in der Region Eifel und Hunsrück geplanten Entlastungsstrecken, auch Strategischer Bahndamm genannt, gehörte seit 1904 die ab 1879 gebaute Ahrtalbahn, die von Remagen nach Ahrweiler und Adenau führte und nun nach Maßgabe des Schlieffen-Plans von Altenahr über einen 150 Meter langen Viadukt und durch fünf Tunnel bis Rech strategisch ertüchtigt werden sollte. Der Streckenbau musste jedoch den technischen Rahmenbedingungen der schwer beladenen Güterzüge Rechnung tragen, die schnell und sicher durch das bergige Land fahren sollten. Lokomotiven durften nicht an ihre Leistungsgrenzen kommen, sodass für große Teile der Trassen die Streckensteigung auf 1 Prozent begrenzt wurde und Kurvenradien von 300 Metern ausgelegt werden mussten. Dies machte den Bau von Tunnelunterführungen und Brücken erforderlich. Eingeplant war indes nicht eine Naturkatastrophe, das furchtbare Ahrhochwasser 1910, das die Bau-gerüste, Baracken sowie Straßenbrücken zerstörte, die Baumaterialien weg-schwemmte und folglich das in Angriff genommene ehrgeizige Bauvorhaben vorerst zum Erliegen brachte.
1923 - Baustopp der Ahrtalbahn
Den zweiten Wendepunkt läuteten der 1. Weltkrieg und die politischen Folgen der Niederlage ein. Elsass-Lothringen und somit die Eisenerzvorkommen waren verloren, das wirtschaftlich geschwächte Ruhrgebiet stand laut Versailler Friedensvertrag ab 1923 unter militärischer Verwaltung von Frankreich, die für die „Ruhr-Mosel-Entlastungslinie" sofort einen sechsjährigen Baustopp verhängte. Bis zum Baustopp durften nach Kriegsende die Arbeiten nur noch eingleisig fortgesetzt werden, doch der Bau kam angesichts der Besetzung des Rheinlands und der Weltwirtschaftskrise nur noch schleppend voran. Rund 15 Jahre lag das Vorhaben mehr oder weniger brach. Zwar wurden 1929 die Arbeiten wieder aufgenommen, doch eine mittlerweile entwickelte Bremstechnik ließ die „Ruhr-Mosel-Entlastungslinie“ in die wirtschaftliche Bedeutungslosigkeit versinken. Buchstäblich auf der Strecke zurück blieben die fertiggestellten Silberbergtunnel (650 m), Kuxbergtunnel (1,3 km), Trotzenberg-, Sonderberg- sowie Herrenbergtunnel wie auch die errichteten Brückenpfeiler des Viadukts nördlich von Ahrweiler, die heute, „Schwurfinger“ genannt, als Kletterpark genutzt werden. Ab 1933 wurden einige ungenutzte Tunnelanlagen für den Anbau von Edel-Champignons genutzt.
1915 - Siegeszug der „Kunze-Knorr-Bremse“
Der dritte Wendepunkt war die Erfindung der „Kunze-Knorr-Bremse“. Diese neuartige Druckluftbremse, 1911 erfunden, ab 1915 in Betrieb genommen und kontinuierlich weiter optimiert, führte letztlich zur Unrentabilität der „Ruhr-Mosel-Entlastungslinie". Durch diese das Bremsverhalten merklich verbessernde Technik konnte bei Güterzügen die Höchstgeschwindigkeit von 30 auf 65 km/h gesteigert werden. Zwar bot die geplante Entlastungslinie die kürzere Strecke, doch auf dem vorhandenen Gleisnetz entlang der Rheinschiene konnten infolge des mehr als doppelten Tempos die veranschlagten Gütermengen reibungslos transportiert werden. Die „Kunze-Knorr-Bremse“ hatte den Schlieffen-Plan endgültig ausgebremst.
1944 – Die Wunderwaffenschmiede im Tunnel
Im Kriegsjahr 1944 wurden die vormaligen Eisenbahntunnel als Filiale der Versuchsanstalt Peenemünde für die „Wunderwaffen“ V1 und V2 genutzt. Unter den Decknamen „Spatz“ und „Rebstock“ war geplant, in den vor Luftangriffen geschützten Tunnelanlagen die V1 und die mobilen Abschussrampen der V2 zu fertigen. Die Produktion der V1 in „Spatz“ wurde kurzfristig aufgegeben, weil die Maschinen nicht angeliefert werden konnten. Die Herstellung der Bodenanlagen in „Rebstock“ wurde jedoch im Silberberg- und Kuxbergtunnel von September bis Dezember 1944 von Zwangsarbeitern, darunter 300 jüdische Häftlinge aus dem KZ Buchenwald, durchgeführt. Eine Außenstelle des KZ für die Internierung der jüdischen Häftlinge wurde zunächst mit elf Baracken bei Marienthal, sodann Dernau errichtet, aber schon kurze Zeit später nach einem alliierten Bomberangriff in den Tunnel verlegt. Über die Anzahl der dort insgesamt eingesetzten Zwangsarbeiter gibt es widersprüchliche Zahlen, die zwischen 500 und 1.400 schwanken. Da auch weitere unterirdische Produktionsstätten in der Region unterhalten wurden, wurden nach deren Schließungen die Kontingente an Zwangsarbeitern verschiedener Nationalitäten in neue Bereitschaftslager für den Einsatz in andere Produktionsstätten verlegt, sodass eine exakte Erfassung nicht erfolgte. Auch die Zahl der Todesfälle im Projekt „Rebstock“ ist offiziell nicht dokumentiert. Laut Zeitzeugen und Überlebenden herrschten dort mangels ausreichender Ernährung und durch KZ-Wächterterror unmenschliche Zustände. Eine juristische Aufarbeitung aufgrund von Aussagen über Erschießungen wurde mangels Beweisen in mehreren Anläufen stets zu den Akten gelegt. Über Produktionszahlen gibt es gleichfalls keine Dokumente.
1944 - Die Stadt im Berg
Wegen der Nachschubstrecke für die Westfront, der geplanten Ardennenoffensive, der unterirdischen Rüstungsproduktion sowie des Vorstoßes der Alliierten in Richtung Remagener Brücke zwecks Rheinquerung, um weiter zum Ruhrgebiet vordringen zu können, wurde das Ahrtal bei Ahrweiler ab Mitte 1944 bis zum 3. März 1945 das Terrain für insgesamt 52 Flächenbombardierungen und tägliche Tieffliegerangriffe, die insgesamt rund 60 Todesopfer forderten. Die schrecklichsten Bombardements ereigneten sich Weihnachten 1944 sowie am 29. Januar 1945, als aus 38 US-Bombern 210 Sprengbomben auf Ahrweiler abgeworfen wurden. 85 Todesopfer waren zu beklagen, 250 Häuser wurden zerstört. Zum Schutz der Einwohner von Ahrweiler wurde schon ab November 1944 in Windeseile im Silberbergtunnel eine „Stadt im Berg“ errichtet, die zuletzt rund 2.550 Menschen, also achtzig Prozent der Bevölkerung, tagsüber als Aufenthaltsstätte diente. Bei Einbruch der Dunkelheit verließen viele Leute den Zufluchtsort, um sich ums Vieh zu kümmern und Proviant für den nächsten Tag zu besorgen, mit dem sie im Morgengrauen zurückkehrten. Die 305 primitiven, meist in Eigenbau hergestellten Behausungen bestanden aus Holz, boten bis zu 20 Personen auf engstem Raum Platz. Diese „Büdchen“ waren mit dem notwendigsten Inventar ausgestattet, rechter- und linkerhand eines Durchgangs aufgestellt, der Adolf-Hitler-Allee genannt wurde. Die Bewohner der nummerierten Büdchen waren wegen der Auffindbarkeit für Post und den Arzt in Listen notiert, es gab eine Kapelle und eine Arztpraxis. Es war dunkel im Tunnel, kalt, klamm und feucht in den Büdchen, Kochen war nur auf Öfen vor dem Tunneleingang erlaubt. Auch gab es in der „Stadt im Berg“ zunächst keine Toiletten. Später wurden die als „Donnerbalken“ bekannten Latrinen hergerichtet, Ungeziefer und Brandgeruch machte den Menschen zu schaffen. Aber sie überlebten diese schrecklichen fünf Monate, in denen einige nicht den Tunnel verließen, bis am 7. März die Amerikaner einrückten. Der Tunnel wurde 1947 von den Franzosen gesprengt. Eine museal eingerichtete Gedenkstätte erinnert heute an diese „Stadt im Berg“, dem ehemaligen und einmaligen Luftschutzbunker von Ahrweiler.
1961 - Geheime Kommandosache Regierungsbunker
Mitte der 50-er Jahre inmitten des „Kalten Kriegs“ plante die damalige Bundesregierung einen „Ausweichsitz der Verfassungsorgane des Bundes (AdVB) im Krisen- und Verteidigungsfall zur Wahrung von deren Funktionstüchtigkeit“, kurzum einen Regierungsbunker. Als NATO-Partner war die junge BRD verpflichtet, eine permanente Befehlsstelle im Falle eines Atomkriegs vorzuhalten. Die Wahl fiel auf den Kuxbergtunnel und den Trotzenbergtunnel. Unter strengster Geheimhaltung begann im Spätherbst 1961 der Ausbau unter dem Tarnnamen „Ausbau Anlagen THW“. Zwar entsprach der brüchige Schiefer nicht den Vorgaben der NATO, doch es bot sich keine Alternative. Entscheidender Faktor war die Nähe zur Bundeshauptstadt Bonn. Die beauftragten Baufirmen und sämtliche involvierten Personen, rund 20.000, wurden zur Schweigepflicht vergattert. Insgesamt 3.000 Amtsträger sollte die unterirdische Anlage für rund 30 Tage beherbergen. Der Regierungsbunker war mit rund 7,2 Mrd. Euro das teuerste Bauwerk der bundesrepublikanischen Geschichte. Infolge des Zusammenbruchs der Sowjetunion und der Wahl Berlins als Bundeshauptstadt wurde der Regierungsbunker 1997 aufgegeben. Nach Rückbau bis 2006 wurde dort die Dokumentationsstätte Regierungsbunker eingerichtet, zu der seit ihrer Eröffnung 2008 zahlreich Besuchern und Fernsehteams aus aller Welt strömen.
2021 - Ein Rückblick mit Aussicht
Geschichte reimt sich. Den Chroniken ab dem 14. Jahrhundert zufolge erlebte das Ahrtal viele schwere Überflutungen; vor 1910 war es 1804 gleichfalls ein Jahrhunderthochwasser mit sogar höheren Pegelständen. Schwere Unwetter ließen die vielen Nebenflüsse und Bäche in kurzer Zeit anschwellen. Hinzu kommt noch das starke Gefälle der Ahr. „Zu nahe am Wasser gebaut“ trifft für die Menschen an der Ahr zu. Angesichts der geographisch bedingten Risikolage gilt das auch für den Eisenbahnbetrieb. Durch die letzte Jahrhundertflut wurde die Ahrtalbahn arg in Mitleidenschaft gezogen. Sie soll bis Jahresende wieder teilweise befahrbar sein. Doch der Neubau mehrerer Brücken und die Neutrassierung der Gleisverläufe wird Jahre dauern. Wäre die fertiggestellte Schlieffen-Strecke bis Rech aber abseits der Tunnel vor Hochwasser sicher? Reine Spekulation. Nun bleibt die Bahn für diese Region heimatverbundener Bewohner, die Wirtschaft und den Tourismus ein wichtigstes Verkehrsmittel. Da ohne Alternative, lohnt sich die Instandsetzung als Zukunftsertüchtigung, denn für kommende Hochwasser sind effiziente Schutzmaßnahmen geplant. Eine Schicksalsentscheidung jedoch, so es schon der römische Stoiker Epiktet (1. Jhdt.) vermerkte: „Ruin und Wiederaufbau liegen dicht beieinander.“