PARIS - KØBENHAVN
Nord-Express – Der ultimative Luxuszug der Belle Époque: Eine europäische Vision auf Schienen
Von einem Rost-Zuglaufschild zur fesselnden Geschichte eines vergessenen Giganten der Eisenbahn.
Dieter Feige, August 2021
Vor einigen Wochen blieb mein Blick wie gebannt vor der Schaufensterauslage eines Modelleisenbahnladens hängen. Nicht die perfekt inszenierten Märklin-Modelle fesselten mich, sondern ein in die Jahre gekommenes, emailliertes Zuglaufschild: PARIS - KØBENHAVN. Fernreisen mit der Bahn haben mich schon als Kind fasziniert, genährt durch die Erzählungen meiner Eltern und Verwandten von Fahrten mit dem Rheingold bis nach Basel oder der spannenden Reise meiner Eltern nach Moskau 1955. Die kulturellen und wirtschaftlichen Bedeutungen dieser Strecken waren mir bekannt. Doch der Express Paris - Kopenhagen? Eine Lücke in meinem Wissen, die ich schließen musste. Dieses Schild war der Anstoß für eine tiefgehende Recherche, die mich geradewegs zurück in die glorreiche Zeit der Belle Époque führte.
Die europäische Vision auf Schienen verdanken wir dem belgischen Eisenbahnpionier Georges Nagelmackers. Der Gründer der Compagnie Internationale des Wagon-Lits (CIWL), eine Schlüsselfigur bei der Entwicklung des Orient-Express und sogar Olympiasieger im Gespannfahren 1900, hatte eine grandiose Idee: eine durchgehende Eisenbahnverbindung von Lissabon nach Sankt Petersburg. Diese kühne Vision scheiterte zwar an der Komplexität politischer und administrativer Hürden. Doch getreu dem Motto "Nägel mit Köpfen" (Nomen est Omen!) wurde das Projekt in zwei separaten Fernlinien realisiert: dem Sud-Express Lissabon - Paris und – ab 1896 – dem Nord-Express Ostende/Paris - Sankt Petersburg.
Die Blütezeit des Nord-Express als exklusive Luxuslinie par excellence, die bereits ab 1899 täglich verkehrte, ist kaum zu übertreffen. Er fuhr von Paris und Ostende (mit Anschluss nach London) über Hannover, Berlin und dem heutigen Daugavpils in Lettland nach Sankt Petersburg, mit Kurswagen nach Riga. Von Berlin ging es ab 1900 zweimal wöchentlich nach Sankt Petersburg und Riga, einmal wöchentlich nach Warschau und Moskau. Für die Russlandreisen gab es eine Umsteigestation an der damaligen russischen Landesgrenze, wo die Fahrt in auf russische Breitspur ausgelegten Luxuswaggons fortgesetzt wurde. Rund 52 Stunden war man von Paris bis Sankt Petersburg in den komfortabel ausgestatteten, dunkelbraunen Waggons unterwegs, inklusive vier Schlafwagen und einem Speisewagen. In Daugavpils gab es sogar Anschluss an die Transsibirische Eisenbahn bis nach China. Diese exquisite Reise, quasi "Haute Couture auf Schienen", endete jäh mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Das fast mythologische Renommee des Orient-Express und das wildromantische Image der Transsib blieben dem Nord-Express indes verwehrt – doch seine Eleganz war unbestreitbar.
Der unaufhaltsame Niedergang: Vom Luxus zum Massenverkehrsmittel
Nach Kriegsende wurde der Betrieb des Nord-Express ab 1921 als D-Zug mit Schlafwagen von Paris bis Warschau wieder aufgenommen. Das Deutsche Reich war vertraglich verpflichtet, die Nutzung seines Bahnnetzes für internationale Expresszüge zu gestatten. Vorübergehend befuhr er die Strecke unter dem Namen Paris-Berlin-Riga-Varsovie-Express. Erst ab 1927 verkehrte der Nord-Express wieder als Luxuszug mit Schlaf- und Speisewagen von Paris und Ostende sowie Calais (mit Anschluss nach London) über Berlin nach Warschau und Riga. Moskau und Sankt Petersburg wurden jedoch nicht mehr angefahren, da die neuen Machthaber im Kreml Luxus jedweder Art verpönten.
Ab 1934 gab es einen Kurswagen von Ostende über Berlin, Breslau und Lemberg bis Bukarest. Zur Anbindung Skandinaviens wurde ab 1935 ein Schlafwagen über Hamburg bis nach Kopenhagen eingesetzt; von dort ging es weiter nach Oslo und Stockholm. Ziel dieser zusätzlichen Streckenführungen war es, nach Überwindung der Weltwirtschaftskrise neben der nun kürzeren West-Ost-Route von Paris bis Warschau vor allem die skandinavischen Länder und Südosteuropa in das bestehende Normalspur-Netz zu integrieren. Der ab 1929 in Betrieb genommene Pullman-Express Ostende - Köln beförderte bis 1933 die Kurswagen des Nord-Express von Ostende nach Berlin, Riga und Warschau. Dank einer neugebauten Streckenführung in Polen verkürzten sich die Fahrzeiten nach Warschau und Riga. Zwar wurde ab 1930 die Attraktivität mit den höchst komfortablen Schlafwagen der Klasse Lx erhöht, doch das Reiseaufkommen östlich von Berlin ließ merklich nach, sodass die Strecke bis Warschau nur noch dreimal die Woche bedient wurde, wohingegen die Strecke westlich von Berlin täglich angeboten wurde. Ein 1927 geplanter Luxuszug aus Schlafwagen der Compagnie Internationale des Wagon-Lits konnte nicht realisiert werden. Der Nord-Express verkehrte noch bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs bis zur polnisch-russischen Grenze und nach Warschau. Trotz der Erschließung neuer Märkte mit Skandinavien, Polen und Südosteuropa konnte der Nord-Express nicht mehr den Status seiner Blütezeit bis 1914 zurückgewinnen. Die Folgen der Weltwirtschaftskrise sowie die neuen politischen und ökonomischen Strukturen in Europa dämpften die Erwartungen. Auch war das Segment Luxusreisen buchstäblich mit dem Aufkommen des Zeppelins und dem beginnenden Flugverkehr in die Luft gegangen. Zudem lockte die „Neue Welt“ zur Atlantiküberquerung. Mit dem Untergang der Belle Époque war auch der Glanz des Nord-Express verblasst.
Nachkriegszeit und popkulturelles Erbe
Nach dem Zweiten Weltkrieg verhinderte der Eiserne Vorhang ein Remake des Nord-Express in seiner alten Pracht. Er verkehrte als arg geschrumpftes Übrigbleibsel ab 1946 auf der Route von Paris über Aachen, Köln, Münster, Hamburg und Flensburg, ab 1963 über Lübeck und die Vogelfluglinie, bis Kopenhagen und retour. Trotz Schlafwagen nach Oslo und Stockholm verlor der Rumpf-Express als internationaler Schnellzug D 11/12 zusehends an Renommee und wurde letztlich zum Massenverkehrsmittel, zudem die Kategorie Luxuszug abgeschafft worden war. Die Schlafwagen nach Skandinavien wurden Mitte der 70er-Jahre nicht mehr mitgeführt, und als D 232/233 endete die Ära schließlich 1997. Ein wahrlich "auf der Strecke gebliebener" Name, der einst die Verbindung von Paris-Nord bis København H bedeutete.
A propos: Während „Mord im Orientexpress“ ein Evergreen der Kriminalliteratur und -filme ist, fand auch der Nord-Express seinen Weg in die Popkultur. Der Hitchcock-Krimi „Der Fremde im Zug“ kam 1952 unter dem deutschen Titel „Verschwörung im Nordexpress“ in die Kinos. Und 1971 hieß ein Krimi aus der beliebten deutschen Serie „Tatort“: „Kressin stoppt den Nordexpress“. Ein kleines, aber feines popkulturelles Erbe, das die Faszination dieses Zuges bis heute bewahrt.
Die Moral von der Geschichte: Mut zur Vision!
Schon damals hatten Pioniere und Visionäre das Ziel, unser Leben nachhaltig zu einem Besseren zu gestalten. Unser Learning ist, dass Bedenkenträger und neuerdings die Cancel Culture in ihrem Klein-Klein blindlings stets diesen kühnen Vorhaben das Wasser abgraben und das Licht ausschalten. Verstärkt wird diese Blockadehaltung gegen Innovationen und Wandel auch durch die in der Sozialpsychologie bekannte Negativspirale. Man opfert seine Idee und beugt sich pseudo-demokratisch einer „gefühlten“ Meinungsmehrheit, meist aus Furcht vor kollektiven Sanktionen.
„Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg“ funktioniert indes nur, wenn feste Entschlossenheit und der erforderliche Mut aufgebracht werden. Die Geschichte des Nord-Express ist eine eindringliche Erinnerung daran, dass Visionen, auch wenn sie nicht immer ihren ursprünglichen Glanz bewahren, doch den Grundstein für Fortschritt legen und uns lehren können, Hindernisse mit Entschlossenheit und Offenheit zu überwinden. Lassen wir uns von der "verblassten" Ära der Luxuszüge inspirieren, mutig neue Wege zu gehen.
Was sind Ihre Gedanken zu Visionen, die ihrer Zeit voraus waren? Kennen Sie weitere Beispiele solcher "verlorenen Giganten" der Innovation?
Ihr Dieter Feige




