Aufbruch ins Morgen
Industrielle Aufbruchstimmung
Dieter Feige, Mai 2021
Einige prämierte Fotografien aus seiner Kollektion von abgelichteten Industrieobjekten überließ mir der Düsseldorfer Fotograf Günter Claus, weil mich diese Bilder in ihrer morbiden Ästhetik und tragischen Bildaussage ansprachen und faszinierten. Die Fotografien dieser verwaisten Geisterorte dokumentieren die letzte Phase vor ihrem Verschwinden. Es sind Relikte einer längst überholten industriellen Epoche, sie haben ihre vormalige Bestimmung und Nützlichkeit eingebüßt und müssen nun meist dem Fortschritt weichen, sofern sie nicht dank Denkmalschutz ein museales Gnadenbrot genießen. Als erinnerungswürdige Zeitzeugen sind sie Bild gebannt worden, weil sie dem Untergang geweiht waren. Sie wurden einst an Ort und Stelle errichtet, um einem Bedarf an technologischer Funktionalität nachzukommen, sie werden indes dort demontiert und verschwinden, wenn dieser Bedarf nicht mehr existiert. Eine neue industrielle Aufbruchstimmung besiegelt ihren Abbruch. So wie die industrielle Aufbruchstimmung im 19. Jahrhundert dazu führte, den Bahnhof in Krebsöge (Bild 1) zu bauen, aber eine industrielle Aufbruchstimmung im 20. Jahrhundert, der Bau der Wuppertalsperre, dafür sorgte, sich des Bahnhofs samt Krebsöge zu entledigen, um die Orte zu fluten. Sie erzählen Geschichten, diese Fotografien, die es wert sind, ihnen zu lauschen, um die Wertschöpfung ihres befristeten Daseins zu verstehen. Es sind bedeutungsvolle Stufen auf dem Weg des technologischen Fortschreitens, welche die Industrie hinter sich gelassen hat, es ohne sie aber nie erreicht hätte.
Architektonische Pracht in der Provinz - Der Bahnhofswartesaal in Krebsöge
Es gibt eine Luxusliga urbaner Pracht- und Prunkbauten, prestigeträchtige Bauwerke, die als Wahrzeichen einer Stadt den Wohlstand und den soziokulturellen Status der Bürger repräsentieren. Zu den Kathedralen, Kirchen und Rathäusern gesellten sich später feudale Stadtpalais und Herrensitze, gefolgt von Konsumtempeln, den großen Magazinen und Malls. Im 19. Jahrhundert nahmen in der Stadtlandschaft Bahnhöfe diese Hauptrolle ein, Aushängeschild und Visitenkarte zu sein. Mit der Eisenbahn begann eine neue, in ihren Dimensionen nie gekannte Ära der Mobilität für Nah- und Fernreisen. Am Zielort angekommen, war der Bahnhof das erste Gebäude, das die mit diesem städteverbindenden Massenverkehrsmittel beförderten Reisenden zu Angesicht bekamen, aber es war auch die letzte architektonische Erinnerung vor der Rückreise. Die imposanten Architekturen der Bahnhöfe bergen zudem in ihrem Herzstück eine technische Innovation - Bahnsteige, Gleisanlagen, dazu die Rituale des uniformierten Personals bei Ankunft und Abfahrt. Überdies sind Bahnhöfe emotionale Orte vom Abschied nehmen bis zum ersehnten Wiedersehen. Neben der reinen Funktionalität bieten sie eine hohe Aufenthaltsqualität auch für Nichtreisende mit Gastro-Areas und Shoppingmeilen, oft 24/7.
Aber auch ländliche Regionen wollten für ihre kleinen Bahnhöfe an dieser Pracht teilhaben. Wie es der vormalige Wartesaal auf dem Bahnhof von Krebsöge aufzeigt. Das Foto wurde im Jahr 1974 aufgenommen, als Bahnstrecke und Bahnhof bereits Legende waren. Sie und der Ort mussten der geplanten Wuppertalsperre weichen, buchstäblich versinken. Die weiß getünchte Fassade weist eine bergisch-märkische Fachwerkanmutung auf, wird unterbrochen von den Fenstern mit den romanischen Rundbogen-Oberlichtern. Die aus bunten Glassegmenten, meist in den Farben grün, gelb und blau komponierten Fenster spendeten warmes, wohliges Licht. Der helle Wartesaal war dem dahinterstehenden Bahnhofsgebäude nebst Stellwerk aus Backstein ausgegliedert, befand sich separat auf dem Bahnsteig, verkürzte den Weg zum eingefahrenen Zug. Nun muss man wissen, dass die 1886 in Betrieb genommene Strecke von Lennep nach Krebsöge vornehmlich für den Güterverkehr gebaut worden war. In dieser Region an der Wupper befanden sich Hammerwerke, Tuchindustrie und Brauereien, den Ort bewohnten in drei Häusern nur 15 Einwohner. Doch Krebsöge wurde 1910 zum Trennungsbahnhof, da es einerseits von Lennep über Krebsöge ab 1888 weiter bis zum heutigen Wuppertal-Oberbarmen ging, andererseits von Krebsöge ab 1910 eine Strecke ins Oberbergische Land über Radevormwald bis Oberbrügge führte. Umsteigen in Krebsöge mussten Reisende, die beispielsweise von Lennep nach Radevormwald fahren wollten. Da der Ort, von dem 200 Meter langen gepflasterten Inselbahnsteig über einen Fußgängertunnel erreichbar, keine Sehenswürdigkeiten bot, schuf der Wartesaal die Atmosphäre und Aufenthaltsqualität, dort bequem und komfortabel die Zeit bis zum Anschluss zu verbringen. Architektonische Pracht in der Provinz, die ausschließlich dem Wohlbefinden der Reisenden diente und den Ort in angenehmer Erinnerung bewahrte.
Der Abschied vom Damals für den Aufbruch ins Morgen
Ein weiteres Foto zeigt den Ausschnitt einer halbwegs abgewrackten Werkstatt (Bild 2), bis auf sein Skelett seiner vormaligen Hülle beraubt. Doch einen Rest seiner innen-architektonischen Eleganz offenbart die Wand linkerhand mit den großen Fenstern im neugotischen Stil, die in der Art von Kirchenfenstern gestaltet sind. Die im 19. Jahrhundert aufgekommene Stilrichtung Neugotik war nicht nur für sakrale Bauwerke beliebt, Stilelemente fanden auch Verwendung in der Architektur von Bahnhöfen. Diese Rückbesinnung auf die ruhmreiche Zeit der großen Kathedralen verlieh den neu geschaffenen Bauwerken einen Hauch von Erhabenheit und Romantik. Heute würden wir sagen, dass mit dieser optischen Anmutung und Atmosphäre den Reisenden eine stilvolle Verweildauer auf den Bahnsteigen geboten wurde.
Dem Fotografen fehlt leider die Erinnerung an den Ort der vor vielen Jahren entstandenen Aufnahme. Erkennt vielleicht ein Leser diesen Ort? Ich würde mich gemeinsam mit dem Fotografen über einen Hinweis sehr freuen.
Der vormaligen Großhalle, einem schmucklosen Depot (Bild 3), weint man sicher keine Träne nach. Die Abdecker haben ihre Arbeit gründlich erledigt, wovon die Schiebkarre und die Schaufel zeugen. Lediglich die Stahlpfeiler, das Quergestänge und die Schienen samt Schwellen warten noch auf ihre Demontage, damit endgültig Platz für etwas Neues geschaffen wird.
Zeit heilt alle Wunden, sodass nostalgische Wehmut nicht nottut. Fortschritt ist ein ständiges Werden, also Entstehen und Vergehen. Diesem Lebenszyklus unterliegt vor allem die Industriearchitektur. Ihre Epochen können wir auf Fotos, in Filmen, Exponaten in Museen und an denkmalgeschützten Objekten als Etappen bestaunen und studieren, die den Weg von den Anfängen der industriellen Revolution bis heute dokumentieren. Auch diese Wandlungsprozesse gehören notwendig zu der Entwicklung, die wir Evolution nennen. „Wandlung ist notwendig wie die Erneuerung der Blätter im Frühling.“ (Vincent van Gogh)