Interkulturelle Kompetenz
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Interkulturelle Kompetenz: Warum Sie nicht mit dem Rucksack erwandert wird
Eine Reflexion über kulturelle Fallstricke im globalisierten Business – und welche Kompetenzen wirklich zählen.
Dieter Feige, April 2015
Eine skurrile Geschichte, die sich um den Jahreswechsel 2011/2012 ereignete und damals im Internet kursierte, bringt die Tücken interkultureller Verständigung auf den Punkt: In Saudi-Arabien wurde ein Expatriate (Expat) von der Religionspolizei verhaftet. Sein "Vergehen"? Er spazierte unbedacht mit einigen Luftballons die Straße entlang. Wie die saudische Online-Zeitung Sabq berichtete, wurde ihm vorgeworfen, gegen das kurz zuvor erlassene Verbot, das neue Jahr zu feiern, verstoßen zu haben. Erst im Dezember 2011 hatte Scheich Abdul Aziz Bin Abdullah, der muslimische Spitzenkleriker des Landes, Neujahrs-, Geburts- und Hochzeitstagsfeiern für unislamisch erklärt.
Diese für uns amüsant klingende Geschichte verdeutlicht die Untiefen der interkulturellen Verständigung. In Zeiten gelebter Globalisierung stellt der Aufbau interkultureller Kompetenz nicht nur Expats vor ernsthafte Herausforderungen. Die einstige Einheit von Raum, Gruppe und Kultur hat sich als Fiktion erwiesen: Globalisierte Finanz- und Warenmärkte, weltweite Medienstrukturen und Migrantenströme haben zu einer rasanten Zunahme kultureller Austauschprozesse geführt.
Was für Gesellschaften gilt, trifft erst recht auf international tätige Unternehmen zu. Waren früher nur nach außen orientierte Unternehmensbereiche wie Vertrieb oder Dependancen betroffen, sind heute in großen Konzernen längst auch die früher eher nach innen gerichteten Bereiche wie das Personalwesen der internationalen Verflechtung unterworfen. Man arbeitet zunehmend in Teams mit Menschen aus unterschiedlichsten Kulturkreisen und Herkunftsländern zusammen. Dieser interkulturelle Spielraum wird beständig größer und stellt den Einzelnen im Arbeitsalltag und in der Kommunikation vor die zum Teil völlig unerwartete Aufgabe, auf plötzlich auftauchende Befindlichkeiten Rücksicht zu nehmen. Das kann manchmal auch schiefgehen.
Der arabische Raum: Andere Taktgeber, andere Regeln
Besonders im arabischen Raum laufen Prozesse mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Es gibt andere Entscheidungshierarchien, und westliche Tugenden treffen auf arabischen Langmut. Der Begriff „Sabr“, der auf den Koran zurückgeht, fasst diesen Langmut treffend zusammen. Auch unsere Vorstellung von festen Zeitfenstern für terminierte Arbeiten deckt sich nach meiner Einschätzung nicht immer mit der arabischen Auslegung. Das persönliche Empfinden, dass – je älter man wird – die Zeit immer schneller vergeht, lässt sich aus dem Islam heraus am besten mit der inneren Uhr des Menschen beschreiben. Diese läuft ab, und der Mensch spürt, dass ein immer größerer Anteil seiner verbliebenen Zeit vergeht. Ich musste zudem feststellen, dass angelsächsische Unternehmen sich dort leichter zurechtfinden und akzeptiert werden – sei es, weil viele Araber in England oder den USA studieren, oder weil diese Unternehmen einen hohen Anteil an Mitarbeitenden mit arabischen Wurzeln haben und diesen Kulturkreis einfach besser verstehen.
Gerade der arabische Raum erscheint ähnlich wie Asien am deutlichsten als eine uns nicht vertraute, ganz eigene Welt, in der natürlich auch andere kulturelle Spielregeln gelten. Dabei sind die arabischen Staaten nicht alle in einen Topf zu werfen: Es existieren drei Regionen mit jeweils eigenen Merkmalen:
- Zum Maghreb zählen Algerien, Mauretanien, Marokko, Libyen und Tunesien. Der Maghreb ist ethnisch kein homogener Raum, was sich deutlich am Westsaharakonflikt ablesen lässt, bei dem nicht nur Marokko, Algerien und Mauretanien über ihren Grenzverlauf streiten, sondern auch spanische und französische Interessen nachwirken.
- Zum Nahen Osten gehören Ägypten, Jordanien, Irak, Libanon, Palästina und Syrien.
- Golfstaaten werden diejenigen Staaten genannt, die rund um den Persischen Golf liegen: Bahrain, Katar, Kuwait, Jemen, Oman, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate.
Sylvia Ortlieb hat in ihrem "Business-Knigge für den Orient" einige wichtige Unterschiede zwischen dem arabischen und europäischen Raum beschrieben, die für alle arabischen Regionen – mal mehr, mal weniger ausgeprägt – gelten:
- Aufbau von Geschäftsbeziehungen: Der Erstkontakt wird in der Regel nicht über Schriftverkehr oder Telefonate angebahnt, sondern durch persönliche Gespräche. Geschäftsbeziehungen pflegt man am besten, indem der Kontakt persönlich gehalten und ein Interesse an der Person bekundet wird.
- Gastgeschenke: Generell gutgeheißen, sollten sie einen persönlichen Bezug haben und immer direkt dem Herrn des Hauses überreicht werden. Etwas aus der eigenen Herkunftsregion, zu dem man eine kleine Geschichte erzählen kann, eignet sich besonders gut.
- Einladungen: Anstelle von Blumen lieber Süßes von vor Ort mitbringen. Blumen werden meist zu Hochzeiten, Geburten oder Krankenhausbesuchen geschenkt, und europäische Süßwaren treffen oft nicht den landestypischen Geschmack.
- Begrüßung: Fragen nach Gesundheit und Wohlbefinden der Familie sowie gegenseitige Segenswünsche gehören zur Grußformel und sollten erwidert werden. Tiefer gehende Antworten sind jedoch fehl am Platz und könnten verstörend wirken.
- Pünktlichkeit: Die deutsche Pünktlichkeit sollte bei der Einreise in das Gastland abgelegt werden; im arabischen Raum herrscht ein anderes Zeitverständnis. Bei Terminen zahlt es sich aus, geduldig und flexibel zu sein.
Darüber hinaus lassen sich bei Ortlieb die häufigsten Fettnäpfchen für Expats im arabischen Raum finden:
- In konservativen arabischen Ländern wie Saudi-Arabien ist die Begrüßung formalisierter als in moderateren Ländern wie Ägypten. Informieren Sie sich vor Abreise über die jeweiligen Herrschaftsstrukturen. Fragen Sie nie direkt nach der Ehefrau oder den Töchtern.
- Schwarzverhüllte Frauen sind tabu; sie genau zu mustern, könnte den gesamten Clan verstören. Als westliche Frau ist Blickkontakt zum männlichen Gesprächspartner zu vermeiden.
- Bei Empfängen oder Treffen sollten angebotene Getränke nie abgelehnt werden; dies kann als Zurückweisung der Gastfreundschaft gedeutet werden.
- Einladungen zum Essen sollten nicht sofort, sondern erst beim zweiten Mal angenommen werden, sonst wird Maßlosigkeit unterstellt.
- Geopolitische Feinheiten: Im Iran spricht man vom „Persischen Golf“, in den Golfstaaten ist die Bezeichnung „Arabischer Golf“ gebräuchlich. Wichtig: Iraner sind Perser und keine Araber! Sie sind stolz auf ihre eigene, ältere Hochkultur und möchten nicht als Araber bezeichnet werden.
Lektionen aus Asien: Persönliche Einblicke
Dieses interkulturelle Wissen variiert natürlich von Kulturraum zu Kulturraum, und oftmals lassen sich auch länderspezifische Unterschiede aufzeigen. Ich selbst habe im Rahmen meiner internationalen Karriere besonders in und mit Asien eigene Erfahrungen sammeln dürfen:
- Japan: Zu Beginn meiner Laufbahn war ich als junge Führungskraft in einem japanischen Konzern angestellt und sehr vom japanischen Management-Stil beeindruckt, der sich in Meeting-Vorbereitungen, Präsentationen, der Entscheidungsfindung, Vollmachten, Absprachen, Hierarchien, Respekt und Konsens niederschlug. Diese waren anders besetzt, und ich musste mich hierauf einstellen. Was ich früher als Führungsschwäche empfunden hätte, wurde in Japan als Stärke des Systems wahrgenommen, und der Erfolg bestätigte die Japaner. Eine prägende Erfahrung aus dieser Zeit: Japanische Kollegen kommen von sich aus nie zum Thema, das muss man einfordern!
- Taiwan/Korea: Diese Erfahrung lässt sich allerdings nicht auf taiwanesische oder koreanische Unternehmen übertragen, die nach meiner Erfahrung weniger den Konsens suchen. Das lässt sich vor allem daraus ableiten, dass viele Führungskräfte dort eine aktive Militärzeit durchlaufen haben.
- Indien: Im Rahmen eines Mandats für einen französischen Konzern wurde ein "Briefing" an einem Samstag angesetzt. Meine indischen Kollegen und ich überlegten im Vorfeld, wie wir uns verhalten sollten: typisch deutsch pünktlich kommen oder eher französisch Zeit lassen? Wir entschieden uns für die "deutsche Pünktlichkeit" – und wurden dafür abgestraft: Bei brüllender Hitze mussten wir eine geschlagene Stunde in einem nicht klimatisierten Pförtnerhaus vor der französischen Dependance warten, bis wir unseren Gesprächspartner zu Gesicht bekamen.
- China: Einmal war ich mit meiner damals jungen Tochter im Schlafwagenzug zu den Yellow Mountains unterwegs. Die Toilette bestand aus einem Loch im Boden des Waggons. Der Schaffner schaute uns verkniffen an. "Warum guckt der so böse?", fragte meine Tochter. Ich versuchte zu erklären: "Er kann nicht anders. Wahrscheinlich muss er 14 Stunden arbeiten und hat nichts im Magen, wahrscheinlich sieht er auch nicht so oft Westler." In diesem Augenblick war mir nicht bewusst, dass die Zugschaffner in der damaligen DDR auch grimmige Gesellen waren.
- Japan (Wegbeschreibung): Einmal fragte ich einen Passanten nach dem Weg. Da er nicht sagen wollte "das weiß ich nicht", ging er in einen Laden und kam mit dem Besitzer heraus, dem ich mein Anliegen vortrug, während mein Passant sich rückwärts verneigend verabschiedete.
- Asien (Empfehlungen): In Indien kennen die meisten nur ihren Straßenzug, und in China sollte man niemanden überfordern. Anhand dieser und der in einem früheren Artikel beschriebenen Episode von der Suche nach einem geeigneten Geigenlehrer für meine Tochter (den ich schließlich auf Empfehlung finden konnte), habe ich gelernt, dass Empfehlungen in Asien für uns ganz unterschiedlich zu bewerten sind.
Kern interkultureller Kompetenz: Zuhören, Beobachten, Anpassen
Das Wissen um andere Kulturen ist potentiell unendlich, da diese sich ebenfalls ständig verändern. Man kann nicht alles wissen, und in der Regel hat man eher mit einer oder zwei Weltregionen über einen längeren Zeitraum zu tun. Genauso wie zum arabischen Raum und Asien ließe sich hier noch auf kulturelle Unterschiede zwischen Deutschland und den uns vermeintlich so nahen USA hinweisen.
Was ist also interkulturelle Kompetenz, und wie erwirbt man sie? Spannende Antworten gibt hier eine Studie der renommierten Bertelsmann Stiftung. Wissenschaftler beschreiben interkulturelle Kompetenz als die Fähigkeit, auf Grundlage bestimmter Haltungen und Einstellungen sowie besonderer Handlungs- und Reflexionsfähigkeiten in interkulturellen Situationen effektiv und angemessen zu interagieren.
Deshalb kommt bestimmten verhaltensbezogenen Kommunikationsfähigkeiten eine sehr viel größere Bedeutung zu als wissensbezogenen (kognitiven) Elementen oder Fremdsprachenkenntnissen. Stattdessen wächst die Bedeutung der prozessorientierten Fähigkeiten, die das Erlernen und Verarbeiten von Wissen über die eigene und andere Kulturen ermöglichen. Zu solchen Kernfähigkeiten, welche die stetige Weiterentwicklung des umfassenden kulturellen Wissens ermöglichen, gehören insbesondere:
- Zuhören
- Aufmerksames Beobachten und Interpretieren
- Analysieren, Bewerten und Zuordnen kultureller Elemente
Ein weiterer zentraler Aspekt interkultureller Kompetenz ist das Konfliktmanagement, das auch Instrumente der Konfliktlösung mithilfe Dritter, wie die Mediation, umfasst.
In jedem Fall und über alle Ländergrenzen hinweg ist es wichtig, auf die kulturellen Untiefen und Befindlichkeiten Rücksicht zu nehmen und Kompromisse einzugehen. Das historische Gegenbeispiel hierzu sind die deutschen Italien- und Spanienreisenden der 1960er und 1970er Jahre, die sich mit dem aufkommenden Wohlstand gerne über die Empfindlichkeiten der Gastländer hinwegsetzten. Genauso unpassend ist bedauerlicherweise das Verhalten einiger Expats heutzutage, welche die Ellenbogen ausfahren und aus einer Machtposition heraus agieren.
Interkulturelle Kompetenz lässt sich nicht einfach – in den Jugendjahren – mit dem Rucksack erwandern. Unersetzlich sind stattdessen Offenheit, Toleranz und Empathie, um diese essenzielle Kompetenz aufzubauen und zu vertiefen. Es geht darum, neugierig zu bleiben, zu lernen und sich anzupassen.
