Der neue Luxus - Bescheid


Stealth Luxury
 

Dieter Feige November 2020
 
Am Rande von Gesprächen mit Kunden, Führungskräften und Experten aus der Bahnindustrie sind neben COVID-19 auch die Veränderungen in unserer Gesellschaft, das Miteinander und das, was uns auszeichnet, ein Thema. Einer zeigte mir seine Miles & More Senator Card und erwähnte, dass sie ihm 20 Jahre die Annehmlichkeiten und Vorzüge des Vielfliegers geboten hat. Seit März dieses Jahres hat er indes keine Flüge mehr nach Asien oder Amerika unternommen, auch sein mit dem Stern geschmückter Dienstwagen steht kaum berührt in der Tiefgarage. Die Anzüge und Zwiegenähten stehen im Schrank, weil er es sich im Home Office mit Pullover und Jeans bequem eingerichtet hat. Natürlich kam die Frage auf, ob wir das in Zukunft überhaupt noch brauchen. Und wenn wir vor die Türe gehen, an Empfänge, Messen oder Weihnachtspartys mag ja zur Zeit keiner denken, will man dann noch in die alte Status-Maskerade zurück? Heißt der neue Trend jetzt etwa Bescheidenheit?
 
Bescheidenheit galt seit dem Mittelalter als Tugend, leitete sich vom Richterspruch ab, einer Person Bescheid zu geben. Was so viel bedeutete, sich mit dieser amtlichen Zuteilung zu begnügen und zufrieden zu geben. So galt ein bescheidener Mensch, der diese Haltung aus innerer Überzeugung vertrat, als besonnen und verständig. Maßlosigkeit und Prunksucht waren ihm fern. Heutzutage wird Bescheidenheit als anspruchslos und einfach aufgefasst. Im Laufe der Geschichte ging der ursprüngliche Sinn verloren, weil sich diese Tugend nicht durchsetzen konnte und im Bedeutungsverlust verkümmert ist. Denn der Gegenspieler von Bescheidenheit hat in dieser Evolution wohl die Oberhand gewonnen. Wie heißt er? Die Antwort gibt auch Miles & More. More hat noch eine zweite, eine versteckte Bedeutung. More Miles, also noch mehr Meilen erwerben, um auf den Gipfel zu gelangen. Der Anreiz und Treiber, dieses Ziel zu erreichen, ist einzig Prestige. Je mehr Meilen, desto mehr Prestige. Aber ist Prestige noch zeitgemäß, wirft es einen erkennbaren Nutzen ab?
 
Bis zum Beginn der bürgerlichen Gesellschaft waren die Prestigeobjekte als sichtbare Insignien von Rang und Stand bis ins feinste Detail reglementiert. Ein Bauer wohnte im Fachwerk, das gehobene Bürgertum residierte in Steinhäusern mit prächtigen Vorgärten. In den Kleiderordnungen, wie im Reichserlass 1530, wurde der Grad an Prestige hierarchisiert, „… daß sich jeder, wes Würden oder Herkommen er sei, nach seinem Stand, Ehren und Vermögen trage, damit in jeglichem Stand unterschiedliche Erkäntnüs sein mög.“ „Auf großem Fuß leben" zeugt noch von der Länge der Schuhspitzen, die für jeden Stand vorgeschrieben waren. Mit Beginn der bürgerlichen Epoche wurde das Prestige quasi vergesellschaftet, es wurde nicht mehr zugewiesen, es war fortan käuflich. So entstand rasch die Luxusgüterindustrie. Man musste es sich nur leisten können. So verwiesen die Prestigeobjekte einzig auf den finanziellen Status des Prestige-Trägers. Aber bereits 2009 verkündete Karl Lagerfeld prophetisch: „Bling is over.“ Warum?
 
Andere Länder, andere Werte? Schweiz und Skandinavien
Man könnte nun meinen, das Bedürfnis nach Geltung und diese in Statussymbolen zur Schau zu tragen, wäre im Wesen des Menschen tief verwurzelt. Luxusgüter als käufliches „Glückshormon“ in gestaffelten Dosierungen. Ein Blick in unsere Nachbarländer lässt aber Zweifel an dieser Annahme aufkommen. In der Schweiz verkörpern augenfällig andere Werte den akzeptierten Status des Eidgenossen. Freizeitgestaltung, sportliche Aktivitäten und Familiensinn haben in dem Land Priorität, das für seine Luxusgüterprodukte und das globale Wealth Management seiner Banken Weltruf besitzt. In den Luxusmagazinen findet man vorwiegend Beiträge über Trends in den Rubriken Activity, also Reisen und Sport, Mobility mit Sustainability und Gesundheit als Beauty, Care und Wellness. Sicher mag das auch in der calvinistischen Haltung einer Askese begründet sein, mit seinem Reichtum nicht zu prahlen. Andererseits könnte die Favorisierung von Erlebniskultur, Gesundheit und Nachhaltigkeit auch in der tiefen Verbundenheit mit der facettenreichen Schönheit der schweizerischen Landschaftsformen liegen.
 
Ein ähnliches Bild bieten die skandinavischen Länder. Auch hier stehen das Familienleben, die Freizeitgestaltung und die Mobilität hoch im Kurs. Welchen Stellenwert Heim und Familie aufweisen, zeigt sich beispielsweise am Phänomen Ikea, das seinen Siegeszug in Europa, Nordamerika und Asien mit Möbeln und Einrichtungsartikeln im 10.000-er-Sortiment rund um Wohnung und Haus fortsetzt. Mit dem „Du“ als Anredeform seiner Kunden und der familienfreundlichen Ausrichtung der Möbelhäuser als Erlebniswelt verdeutlicht der Konzern ein skandinavisches Verständnis von Prestige. Wahrscheinlich ist diese nordische Mentalität auf mehrere Einflussfaktoren zurückzuführen. So ist der überwiegende Bevölkerungsanteil protestantisch, gehört also einer Glaubensrichtung an, in der traditionell Sparsamkeit und Familiensinn Tugenden sind. Hinzu kommt die geringe Bevölkerungsdichte in den meisten Regionen, die eine spezifische soziale Kultur des Miteinanders hervorgebracht hat. Wenn man noch den langen, dunklen und kalten skandinavischen Winter mit in diese Überlegungen einbezieht, leuchtet einem die Priorisierung dieser Werte ein. In Dunkelheit und Kälte sucht der Mensch Geborgenheit, hat Bling also keine Chance. Aber sind schweizerische Naturlandschaftsromantik oder skandinavischer Winter unerlässliche Voraussetzungen für einen Wertewandel in unseren Breitengraden und unsere bis in die Dörfer hineinreichende Urbanität?
 
Die stille Revolution der Bobos initiiert den Wandel der Statussymbole
Golden State Kalifornien, Ausgangspunkt einer neuen Bewegung. Unbemerkt vom Luxus-Mainstream, der sich immer stärker in aufstrebenden Schwellenländern ausbreitet, hatte sich dort eine kleine, aber feine Community von New Luxury, besser Stealth Luxury etabliert. Stealth steht übersetzt für heimlich und wird militärisch auch für die Tarnkappenflugzeuge verwandt. Pioniere dieses neuen Lebensstils waren die Bobos, bourgeoise Bohemians, akademisch gebildet, ökologisch orientiert, wirtschaftlich erfolgreich. Ihr Ideal war eine neue Form der akademischen Kultiviertheit, anti-elitär, umweltbewusst, sozialverträglich. Als Reaktion auf den sozialen Klimawandel nach Wirtschafts- und Finanzkrisen kreierten sie eine neue Tugend. Statt wie Yuppies Millionen in vulgäre materielle Prestigeobjekte à la Protz und Prunk zu investieren, leisten sie sich im Verzicht auf sichtbaren Luxus erhebende kulturelle und soziale Erfahrungen der ästhetisch-spirituellen und intellektuellen Art. Bill Gates und Mark Zuckerberg sind prominente Vertreter dieser Bewegung. Die Besinnung auf das Essentielle des Daseins definiert die Spielregeln von Stealth Luxury: Lifestyle of health und sustainabiltity (LOHAN). Was man auf der gepflegten Haut trägt, verrät eine Studie von Bain & Company: Dezente Designs in höchstwertiger Verarbeitung edelster Materialien. Der Clou, der Wert ist nur für Insider erkennbar. Ökologische Nachhaltigkeit dokumentieren faire Shirts aus Bio-Baumwolle oder recyceltem Plastikmüll. Wachsende Filialen dieses Lifestyle finden sich in vielen europäischen Metropolen. Dieser New Look einer materiellen Bescheidenheit kommt natürlich gut bei der Generation Z an, die umweltbewusst an Nachhaltigkeit und Schonung der Ressourcen orientiert ist, eine starke Ausrichtung auf Familie und Häuslichkeit besitzt und Sharing Economy favorisiert. Die Pandemie könnte sicher ein zusätzlicher Katalysator für diese neue Lebensart sein. Was sagte schon Heinrich Heine: „Jedes Zeitalter, wenn es neue Ideen bekommt, bekommt auch neue Augen.“
 

#derneueluxus
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