Too Young to Be Retired
Too Young to Be Retired: Was die Bremer Stadtmusikanten uns über das Alter und den Arbeitsmarkt lehren
Ein Märchen als Weckruf: Warum erfahrene Senior:innen kein "altes Eisen" sind und die Wirtschaft sie mehr denn je braucht.
Dieter Feige, Dezember 2019
Es war einmal, da machten sich vier noch rüstige Lebewesen gemeinsam zu Fuß auf den Weg in eine Stadt. Ihr Ziel: eine neue berufliche Karriere als Team zu starten. Ihre bisherigen Wirkungsstätten hatten sie verlassen, weil sie – nach Ansicht ihrer Chefs – ausgemustert worden waren. Dabei hatten alle mit Fleiß und Expertise maßgeblich zu Prosperität und Fortbestand ihrer Unternehmen beigetragen. Ihre Parole lautete: "Go West! Auf nach Bremen, auf in die Freie Hansestadt!"
Sie meinen, Sie kennen diese Geschichte? Wurde sie Ihnen vielleicht als Kind erzählt oder haben Sie sie in einem Märchenbuch gelesen? Oder sind Sie ihr in Bremen begegnet, wo den vier couragierten Senior:innen in exponierter Citylage ein Denkmal errichtet wurde – ein Wahrzeichen dieser Stadt, auch wenn die Geschichte nicht verrät, ob sie dort wirklich als Bremer Stadtmusikanten aufgetreten sind. Doch das ist für unsere heutige Betrachtung nicht wesentlich.
Die prophetische Qualität eines Märchens: Eine Romantische Fabel trifft auf industrielle Realität
Das Märchen, veröffentlicht 1819 in der 2. Auflage der "Kinder- und Hausmärchen" der Gebrüder Jacob und Wilhelm Grimm, ist mehr als nur eine nette Gute-Nacht-Geschichte. Die Gebrüder Grimm, renommierte Sprachwissenschaftler, Gründungsväter der Germanistik und Vollblutromantiker, beleuchten darin ein sich damals schon abzeichnendes gesellschaftliches Problem: die Auswirkungen der beginnenden Industrialisierung auf die ältere Generation.
Während in ländlichen und urbanen Großfamilien sowie Handwerksbetrieben ältere Menschen oft noch aufs Altenteil gesetzt wurden – sie erhielten Kost und Logis, konnten sich nützlich machen und ihr Rat wurde eingeholt – änderte sich dies für die wachsende Klasse der Industriearbeiter. Diese lebten meist in Kleinfamilien und waren einem anderen Schicksal ausgeliefert: Nach der "Ausmusterung" drohte die Entsorgung mit dem "Gnadenbrot". Vor diesem zeitgeschichtlichen Hintergrund bekommt das Märchen von den Bremer Stadtmusikanten das Format einer Fabel, die Intention eines Gleichnisses mit einer moralischen Pointe.
„Es war einmal“ – und ist es immer noch?
Die sozio-ökonomische Komponente, der Versorgungsnotstand im Alter, ist zwar durch die Einführung der Rentenversicherung 1891 und nachfolgende Maßnahmen zur Altersversorgung (bis hin zur Grundrente) wesentlich abgefedert worden. Doch auch 200 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung hat das Märchen eine Bedeutung, die weit über die reine Altersversorgung hinausgeht.
Die vier Fabelwesen fühlten sich alle in der Lage, noch etwas Nützliches auf ihre vier Beine zu stellen. Das Musizieren im Quartett war ihre Geschäftsidee, Bremen als "Boom-City" seinerzeit der ideale Ort für ihren kreativen Startup als Senior:innen. Ihre "Generalprobe" in Form einer Hausbesetzung konnten die vier bereits auf ihr Erfolgskonto verbuchen. Ihr zweiter Auftritt bewies zudem, dass ihr kreatives Produkt echte Marktreife besaß. Märchen erzählen erfolgreich umgesetzte Business-Strategien eben oft in ihren fabulösen Bildern.
Der realistische Kern der Geschichte bleibt das Bewusstsein der vier Senior:innen, noch lange nicht zum alten Eisen zu gehören, und die Courage, sich aktiv und engagiert an der Wertschöpfung zu beteiligen. Damals war die durchschnittliche Lebenserwartung beträchtlich kürzer, und der Begriff der "Lebensarbeitszeit mit anschließendem Ruhestand" existierte noch nicht. Man arbeitete, solange man konnte. Sollte es für die qualifizierte Berufsausübung nicht mehr reichen, gab es immer noch Beschäftigungen, die ausgeübt werden konnten – in der Fabel das Musizieren, idealerweise als Stadtmusikanten. Diese Einstellung ist auch zweihundert Jahre später bei vielen Senior:innen immer noch hochaktuell.
Der Wandel des Bewusstseins: Von der "Lebenslüge" der arbeitsfreien Rente
Mit der Rentenversicherung wandelte sich sukzessive die Gewissheit auf materielle Sicherheit als Rentner:in in ein fatales Anspruchsdenken. Bei uns in Deutschland wurde dieser "Switch" bereits in den ersten Jahren des Wirtschaftswunders als Errungenschaft des Sozialstaates erkennbar. Es entwickelte sich rasch das Narrativ einer wohlverdienten dritten Lebensphase: der arbeitsfreien Rentnerzeit. Beflügelt durch das Renteneintrittsalter und später durch Altersteilzeitmodelle, entstand das Bewusstsein, mit der Rente endlich frei vom Joch der Arbeit zu sein. Die Zeit "Danach" wurde – von diversen Organisationen verkündet – wie ein vorgezogenes Paradies thematisiert. Konsumgüterindustrie und Touristik schufen sogar erste Erlebnisparks für einen "seniorenhedonistischen" Ruhestand. Wie verfestigt dieser Anspruch ist, zeigen bis heute die Reaktionen bestimmter Parteien und Proteste von Interessenverbänden bei jeder Diskussion über eine Erhöhung der Lebensarbeitszeit.
Nun soll niemandem das Recht auf ein arbeitsfreies Leben nach langer Erwerbstätigkeit beschnitten werden. Doch diese Entscheidung sollte jedem selbst überlassen werden. So wie den vier Stadtmusikanten, die noch nicht das Ende ihrer Kräfte fühlten.
Denn die Wirklichkeit des Rentnerdaseins entspricht oft nicht dem Mythos. Abgesehen vom Problem der Altersarmut drängen immer mehr Rentner:innen auf den Arbeitsmarkt. Zwischen 2000 und 2016 stieg die Zahl der erwerbstätigen Rentner:innen laut Bundesarbeitsministerium von 530.000 auf 1,45 Millionen. Aktuelle Zahlen zeigen, dass der Trend ungebrochen ist und ein immer größerer Anteil der Rentner:innen im Ruhestand etwas hinzuverdient oder sich sogar ehrenamtlich engagiert. Umfragen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) belegen: Die meisten erwerbstätigen Rentner:innen haben Spaß bei der Arbeit, brauchen den Kontakt zu anderen Menschen oder wünschen sich weiterhin eine "Aufgabe".
Auf dem Drehkreuz: Herausforderungen und Chancen für die Ü65-Generation
Um in der Sprache der Eisenbahner zu bleiben: Mit dem Eintritt in die Rente befindet man sich auf einem Drehkreuz. Wer es will und kann, genießt jetzt die 24/7-Freizeit á la carte. Etliche Rentner:innen aber geraten in Unruhe und lähmende Langeweile. Sie drängt es in die Wartezimmer von Arztpraxen, weil es im Ruhestand eben schneller irgendwo zwickt oder zwackt. Andere wiederum suchen Beistand in Seniorenclubs, um der drohenden Langeweile zu entkommen. Ein großes Auffang- und Abklingbecken für viele ist das Ehrenamt, wo man das Bewusstsein hat, sich noch sinnvoll und nützlich einzubringen.
Der ungebrochene Trend vieler erwerbstätiger Rentner:innen, sich noch in die Wertschöpfungskette einzureihen, ist das andere Gleis. Angesichts der demografischen Entwicklung und des schon seit Jahren beklagten Fachkräftemangels braucht die deutsche Wirtschaft die Senior:innen Ü65plus dringend. Es wäre Aufgabe der Politik, attraktive Anreize zu setzen, die über den Minijob hinausgehen. Die Bereitschaft, sich mit seinem in langen Jahren angereichertem Know-how und fachlicher Expertise einzubringen, darf nicht mit dem Malus von zusätzlichen Abgaben belastet sein. Einen Vollzeitjob streben bekanntlich die wenigsten an, doch der Minijob gerät einfach zu kurz.
Sicher wäre es angeraten, dass sich die Entscheider in dieser Angelegenheit den Rat der Gebrüder Grimm einholen. Das Narrativ von der "volonté générale", mit Bezug der Rente ein arbeitsfreies Leben führen zu wollen, erweist sich angesichts der geschilderten Entwicklung als pures Märchen. Das Märchen von den Bremer Stadtmusikanten hingegen enthält eine gute Prise Wahrheit. Da sind wir uns sicher einig.
Lassen Sie uns daher gemeinsam überlegen:
Wie können wir Rahmenbedingungen schaffen, die es Senior:innen ermöglichen, ihre Expertise und Schaffenskraft weiterhin flexibel und attraktiv in Wirtschaft und Gesellschaft einzubringen, anstatt sie zum "alten Eisen" zu erklären?
