Die Ewigkeit dauert lange
Die Ewigkeit dauert lange, besonders gegen Ende.
Warum wir unser Bild vom Ruhestand dringend überdenken müssen – und was wir von einem Schlosser aus Oberkassel und Japan lernen können.
Dieter Feige, April 2015
Der entzauberte Ruhestand: Ein Blick auf die „Golden Agers“
„Die Ewigkeit dauert lange, besonders gegen Ende.“ Dieses Zitat des Filmemachers Woody Allen, selbst inzwischen 89 Jahre alt, trifft den Kern eines Themas, dem ich mich hier widmen möchte. Es nimmt dem oft verklärten Phänomen des Ruhestands nicht nur ein gerütteltes Maß seiner Romantik. Es ist auch die treffende Quintessenz eines bedenklich unterschätzten soziodemografischen Zustands unserer Gesellschaft. Ein Zustand, der auf den ersten Blick wie das ersehnte Arkadien anmutet, wo Milch und Honig fließen, bei näherer Betrachtung aber auch zu blanker Ernüchterung taugt.
Längst ein gewohntes Bild sind die überwiegend älteren Herrschaften, im Zielgruppenjargon gern „Golden Agers“ oder „60+“ genannt, die man regelmäßig in den Cafés und Bistros unseres Viertels in Oberkassel antrifft. Morgens und nachmittags beim Latte Macchiato, abends bei Wein und Bier vertreiben sie sich in meist gleichaltriger Gesellschaft – häufiger aber allein, beschäftigt mit dem Smartphone – die Zeit. Ein Gut, das dieser augenscheinlich nicht mehr in Erwerbstätigkeit befindlichen Generation im Überangebot zuteilwird.
Ist ihre Vision eines freudvollen Ruhestandes aufgegangen? Haben ihre Sehnsüchte nach dem Loslassen von Verantwortung mit dem Renteneintritt ihre Erfüllung gefunden? Erleben sie den Übergang vom Hamsterrad ins Faultierdasein wie erwartet als beglückend? Liest man in den lebendigen Gesichtern dieser den Müßiggang reichlich auslebenden Senioren, drängt sich mir inzwischen ein bedrückendes „Nein“ auf.
Willi Wolfram: Ein Gegenentwurf zur Untätigkeit
Einige Schritte weiter, am Fuße der Allee, zeigt sich mir dann, dass es auch ganz anders geht. Hier betreibt Willi Wolfram, seines Zeichens Schlosser auf Lebenszeit, mit beachtlichen 83 Jahren, die man ihm nicht die Spur ansieht, seine Werkstatt. Mittlerweile im Einmannbetrieb. In seiner Werkstatt, mit Stanzen, Zangen, Feilen, Pressen und einem alten Schmiedeofen, herrscht ein ganz besonders aufgeräumter Geist, getrieben von einer agilen Persönlichkeit und ungebrochenem Tatendrang.
Mit rosiger Gesichtsfarbe und einem gelegentlichen Aufblitzen seiner wachen Augen verrät er mir, dass seine Werktage nach wie vor sehr ausgefüllt seien, es an Aufträgen nicht mangele – auch manch großem nicht. Das gehe oftmals weit über das eigentliche Schlosserhandwerk hinaus, erfordere Fantasie und natürlich eine Menge Können, Geschick und Geduld. All das hat Herr Wolfram und macht von montags bis freitags rund 6 Stunden täglich Gebrauch davon. Unermüdlich seit ungezählten Jahren. Auch wenn er sich mittlerweile schon mal den Luxus gönnt, ein bisschen später anzufangen.
Dass ihn diese regelmäßige Aufgabe und die sozialen Kontakte jung halten, muss er nicht extra aussprechen. Es ist diesem schlanken, präsenten und für sein Alter auffallend adretten Mann anzusehen. Mit bescheidenem Stolz führt er mich durch seine Werkstatt, die er laut eigenem Bekunden nicht etwa des Geldes wegen weiterführt, sondern weil es ihm einfach Freude bereite. Ruhestand sei nichts für ihn. Ein Leben ohne das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun – für ihn unvorstellbar. Entsprechend schlüge er auch wohlmeinende Antragungen von Freunden in den Wind, er solle doch mit seinem Geld einfach mehrmals im Jahr Urlaub machen. Herr Wolfram will das gar nicht. Er braucht sein handwerkliches Schaffen, das ist unverkennbar, wie die Luft zum Atmen. Da wundert es nicht, als er mir erzählt, dass er außerdem noch immer so gern selbst seine Blumen im heimischen Garten von der Zwiebel aus hochzieht und es zuhause auch noch eine Frau zu diesem Mann gibt.
Als letzter Schlosser im Stadtteil Oberkassel, und als sympathischer Ausnahmesenior allemal, wird Willi Wolfram bis heute von seiner Kundschaft sehr geschätzt. Bei allem, was sich mir während meines Besuches an Eindrücken bot, kann ich mir die Analogie zu einem Werbeslogan aus den späten 60er-Jahren nicht verkneifen: „Und er läuft und läuft und läuft…“ – genauso wie sein VW-Bulli, Baujahr 1978, mit dem er seither allem Zeitlichen zu trotzen scheint. Fast ist man versucht, es metaphorisch zu sagen: Hier hat sich ein Schlosser den Schlüssel zum Glück im Alter selbst geschmiedet. Das nehme ich als Mensch, aber vor allem auch als personalberatender Wegbereiter mit. Künftig schreite ich mein Viertel sicher noch nachdenklicher ab, wo sich doch zunehmend die Frage stellt, wer denn, bei fehlendem Nachwuchs, zukünftig qualifizierte Arbeit ausführen kann.
Die Stimme der Vielen: Wunsch nach längerer Lebensarbeitszeit
Ist Willi Wolfram nun ein Exot oder lässt sich mit ihm ein Exempel statuieren? Ein Blick auf Stimmungsbilder der Allgemeinheit zeigt: Repräsentativen Umfragen zufolge wünschen sich 53 Prozent der Bürger – quer durch alle Bildungsschichten – das Berufsleben vorzeitig zu verlassen. Auch wenn sie dafür finanziell kürzertreten müssten und von ihrer geistigen und körperlichen Fitness her eigentlich weiterarbeiten könnten.
Mich interessiert allerdings mehr die andere Seite der Befragten. Widmen wir uns also denen, die in kaum nennenswerter Unterzahl – immerhin 47 Prozent – ihre zweite Lebenshälfte vielleicht ähnlich mit Inhalt ausfüllen möchten wie Schlosser Willi Wolfram. Vorausgesetzt – und eben das ist entscheidend – es bieten sich ihnen hierfür die erforderlichen Rahmenbedingungen.
Einen mutigen Vorstoß wagte in diesem Zusammenhang bereits vor geraumer Zeit der frühere Wirtschaftsminister Wolfgang Clement. Der damals 72-Jährige sprach sich öffentlich dafür aus, die gesetzliche Lebensarbeitszeitbegrenzung gleich ganz abzuschaffen. Rückenwind für diesen Sturmangriff auf die hitzig diskutierenden Lager gab es zudem von einigen Max-Planck-Forschern und ihrer Forderung nach einer Rente mit 72. Zwar lagen der Überzeugung Letzterer monetäre Erwägungen zugrunde, nämlich den Folgen der kontinuierlich steigenden Lebenserwartung im Sinne der Rentenkassen Rechnung zu tragen. Clement allerdings beleuchtet noch jenen anderen Aspekt: Dass nämlich ein Drittel der Menschen immer länger arbeiten wolle, zeige doch, so seine Einlassung, dass viele Bürger mit ihrer Lebenseinstellung weiter seien als die Politik. Dem schließe ich mich mit meinen eigenen Beobachtungen und Erfahrungen aus voller Überzeugung an. Damit sollte auf ein längst überfälliges Umdenken abgehoben werden, das noch ein menschliches Stück weiter greift als die Erwägungen zur erwarteten Kostenexplosion bei Renteneintritt der Babyboomer-Generation
Lohnender Blick nach Japan: Land der vorbildlichen Altersintegration
In keinem anderen Land der Welt beschleunigt der Alterungsprozess derart rasant wie in Japan. Das Land durchläuft gerade einen beispiellosen demografischen Wandel – von der einst jüngsten zur ältesten aller Industrienationen. Konkret: Man rechnet über das Jahr 2050 hinaus mit einem wachsenden Anteil alter Menschen auf 40 Prozent bei insgesamt schrumpfender Bevölkerung. Schon heute ist fast ein Viertel der japanischen Einwohner 65 Jahre und älter.
Wie löst Nippon diesen gordischen Knoten? Auch im Fernen Osten stellt man sich Fragen nach dem Erhalt der sozialen Vitalität und wie es gelingt, trotz des massiven demografischen Ungleichgewichts als Generationensystem in Balance zu bleiben. Zwar sind die Nöte des Alters wie körperliche Einschränkung, Vereinsamung und Angst vor dem Sinnverlust des Lebens dieselben wie hierzulande. Der Lösungsansatz ist von unserem allerdings so weit entfernt wie die fernöstliche Kultur von der westlichen.
Nach dem Platzen der "Bubble Economy" zu Beginn der 1990er-Jahre hat sich ein Wandel vom „Seniority to Performance Principle“ entwickelt. Das auf Effizienzsteigerung ausgelegte Prinzip basiert auf der Bereitschaft der Führungskräfte, innerhalb oder außerhalb des Unternehmens andere Aufgaben wahrzunehmen. Dabei ist oftmals die hierarchische Einstufung niedriger, jedoch ändert sich das eher nach außen nicht unmittelbar erkennbarem Ranking dabei nicht. Die Mitarbeiter bleiben weiterhin beschäftigt und auf der „Payroll“. Die meisten großen Unternehmen verfahren nach diesem System, das eine Mehrheit ihrer Angestellten in Anspruch nimmt; falls nicht, helfen sogenannte „Silver Talent Centers“ für eine gezielte berufliche Eingliederung älterer Menschen in Vollzeit oder Teilzeit.
Ruhestand heißt hier „Fortsetzung folgt“. Dabei ist bemerkenswert, dass in Japan über doppelt so viele Männer und Frauen im Alter von 65 Jahren und älter erwerbstätig sind als vergleichsweise in den USA. Diese Tatsache liegt in erster Linie in einem abweichenden Verständnis von „Ruhestand“ begründet. Ich verwende hier gerne den Vergleich mit dem traditionellen japanischen Theater, wo der Künstler nach seiner Performance nicht hinter einem Vorhang „verschwindet“, sondern am Publikum vorbeischreitet. Das steht im Kontext zur ausgeprägten Diesseitsbezogenheit in Japan und ist Teil der Kultur, der „social harmony“, und findet auch in der Arbeitswelt Anwendung. Zudem klammern sich die „Seniors“ nicht wie in Europa an der Macht, sondern moderieren und sorgen für den Konsens im Team.
Das japanische, gruppenorientierte, eher konformistische Miteinander mit einer generationsübergreifenden Solidarität lässt sich sicherlich nicht eins zu eins auf die wesentlich individualistisch geprägte deutsche Kultur übertragen. Dennoch bietet es wertvolle Ansätze für „Human Resources Planning“ oder zukünftige HR-Strategien.
Die Zukunft gestalten: Ein Appell
Ich möchte mit einem Zitat von Woody Allen schließen, das seine Weisheit über die Zukunft auf den Punkt bringt: „Ich denke viel an die Zukunft, weil das der Ort ist, wo ich den Rest meines Lebens zubringen werde.“
Bleiben Sie uns wohl gewogen.
Herzlichst,
Ihr Dieter Feige


