Missing Infrastructure
Missing Infrastructure is Hell: Wenn Visionen auf Schienen im Wüstensand versanden
Eine persönliche Reise von der romantischen Eisenbahn der Belle Époque zur harten Realität fehlender Infrastruktur in Schwellenländern – und was wir daraus lernen können.
Dieter Feige, Juli 2012
Das Fahren mit der Bahn hat mich von Kindesbeinen an begleitet und ist untrennbar mit unvergesslichen Erinnerungen verbunden: Fahrten mit dem legendären Rheingold durch das Rheintal in die Schweiz oder mit dem Autoreisezug nach Kärnten, später nach England und Südfrankreich. Für mich war es immer das Betreten einer geordneten Welt. Selbst in Phantasie und Literatur hatte das Reisen mit der Bahn einen hohen Stellenwert: Ob Anna Karenina ihre Blicke mit dem jungen Grafen Wronski auf dem Bahnsteig wechselte, der Polarexpress meine Kinder begeisterte, oder der Hogwarts Express angehende Zauberlehrlinge von Gleis 9 ¾ transportierte – Züge waren stets positiv besetzt, verkörperten eine verlässliche und stabile Welt. Doch im Laufe meines Lebens musste ich auch erkennen, dass die Reisen, die man willkürlich oder unwillkürlich antritt, selten so ein definiertes Ziel haben wie Bahnfahrten.
Wer viel außerhalb der "alten Welt" reist, muss die Versäumnisse fehlender Infrastruktur am eigenen Leib spüren. Man nähert sich mühsam über holprige Landstraßen dem Ziel, Straßen, die nie richtig fertiggestellt wurden. Im schlimmsten Fall sind die Wege so schlecht, dass sogar das Auto versagt und man auf ein Muli umsteigen muss, wie auf unserem Schnappschuss.
Südamerikas Eisenbahn-Paradoxon: Eine glorreiche Vergangenheit und die marode Gegenwart
Besonders in Südamerika und exemplarisch in Brasilien ist "die Bahn" ein gänzlich anderes Transportmittel, als wir es kennen und schätzen. Und das, obwohl der Kontinent eine lange Eisenbahngeschichte vorweisen kann: Die erste Eisenbahn fuhr dort schon 1851 in Peru von Lima zum Seehafen Callao, eine Strecke von nur 13 km. Bis 2005 verkehrte zudem die weltweit höchstgelegene, normalspurige Eisenbahn von Lima nach Oraya, die auf ihrem Scheitelpunkt unglaubliche 5.781 Meter über dem Meeresspiegel erreichte.
Doch diese historischen Leistungen täuschen über den maroden Zustand dieses einst so bedeutenden Transportmittels auf dem südamerikanischen Kontinent hinweg, besonders in Brasilien. Die Gründe für diesen beispiellosen Niedergang liegen in der Politik einer nicht allzu fernen Vergangenheit: In der neoliberalen Ära der 1980er und 90er Jahre überzeugten Vertreter internationaler Finanzinstitutionen und die in Südamerika mächtige Autolobby die Regierungen, dass die Zukunft auf der Straße und nicht auf der Schiene liege. Die Folge war ein "Streckensterben": Der Schienenverkehr wurde entweder privatisiert oder stillgelegt, unzählige Arbeitsplätze vernichtet. Ganze Dörfer und Städte wurden von heute auf morgen von der Außenwelt abgeschnitten und verwandelten sich in Geistersiedlungen.
Brasiliens Wende: Die Wiederentdeckung der Schiene
Ein erneutes Umdenken erfolgte erst in der jüngsten Vergangenheit. Die kontinentalen Ausmaße Brasiliens, Ölpreissteigerungen, die immer größere Nachfrage nach brasilianischen Rohstoffen, ein boomender Export, das überlastete Straßennetz und nicht zuletzt der Klimawandel verdeutlichten den Planern: Der Verkehr auf der Schiene ist dem Verkehr auf der Straße überlegen.
Besonders Brasilien, als Ausrichter der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 und der Olympischen Sommerfestspiele 2016, war und ist stark darum bemüht, seine Infrastruktur und sein öffentliches Transportsystem wieder auf Linie bzw. auf die Schiene zu bringen. Wie sonst sollen die zahlreich erwarteten Gäste sicher zu den Austragungsstätten der sportlichen Großereignisse transportiert werden? Vor allem in puncto Sicherheit tun sich hier angesichts einer erschreckend hohen Kriminalitätsrate in den Elendsvierteln (z.B. Rios) große logistische Herausforderungen auf.
Der Nachholbedarf ist immens: Im größten Land Südamerikas gibt es nur noch drei Eisenbahnfernstrecken für den Personenverkehr. 60% des brasilianischen Gütertransports laufen über die Straße. Das brasilianische Schienennetz erstreckt sich bislang nur über 29.000 Kilometer, wovon Experten schätzen, dass nur 10.000 km in einem wettbewerbsfähigen Zustand sind. Zum Vergleich: Indien, flächenmäßig nicht einmal halb so groß wie Brasilien, verfügt über ein 64.000 km langes Streckennetz. Brasilien hat die schlechteste Transport-Infrastruktur unter den zehn größten Wirtschaftsnationen, schlechter noch als die Indiens. Das gesamte U-Bahnnetz Brasiliens beträgt heute gerade mal 226 km; São Paulo, die größte Metropole der südlichen Hemisphäre, steuert davon ganze 74,3 km bei (London: 402 km). Auch das Straßennetz ist in schlechtem Zustand: 25% sind laut nationalem Transportverband CNT in einem schlechten bis sehr schlechten Zustand. Die Logistikkosten sind horrend, und die ständig wachsende Zahl der Verkehrstoten (ca. 58.400 jährlich) ist ein trauriger Indikator.
Neue Horizonte: Investitionen und Herausforderungen
Handlungsbedarf ist also mehr als ausreichend vorhanden, und die Politik hat dies erkannt. Der Anteil des Schienenverkehrs am Güterverkehr soll nach dem Willen der Regierung bis 2025 von 25% auf 35% steigen. Bis 2020 sollten 15.000 km neue Gleise entstehen, was eine steigende Nachfrage nach Antriebstechnik, Elektrik und Schienenfahrzeugen bedeutet (Studie German Trade and Invest (GTaI), 2010).
Zahlreiche Projekte wurden angestoßen:
- Die Nord-Süd-Verbindung Ferrovia Norte-Sul ist schon länger im Bau.
- Die Transnordestina soll den Ost-West-Transport im Nordosten übernehmen.
- Ein angepeiltes Großprojekt ist eine transkontinentale Schienenstrecke von Rio de Janeiro bis zur peruanischen Grenze.
- Weitere Strecken wie Uruaçu nach Ipatinga oder Guarapuava zum Hafen Paranaguá sind in Planung oder im Bau, ebenso die Ferrovia do Frango (die Hühnereisenbahn) in Santa Catarina.
Insgesamt sollten bereits bis 2011 landesweit 5.000 km Schienen hinzukommen, weitere 5.000 waren im Planungsstadium. Bis 2019 oder 2020 könnten es 25.000 km an wettbewerbsfähigen Schienenverbindungen in Brasilien geben. Dennoch könnten laut Prognosen bis zu 18.000 km in Ballungsräumen aufgrund illegaler Besiedlungen und Elendsbaracken weiterhin den Verkehr behindern.
Die GTaI-Studie von 2011 belegt den Wandel: Brasiliens Infrastrukturausgaben stiegen gegenüber dem Vorjahr um 21%. Schon 2010 wurden öffentliche Gelder am stärksten in den Transportbereich investiert. Auch das innerstädtische, öffentliche Verkehrssystem wird erstmals seit 20 Jahren wieder öffentlich gefördert.
Infrastruktur als Sicherheit – Die Seilbahn von Rocinha
Interessant ist auch eine gegenwärtige Entwicklung, die Infrastruktur zum Bestandteil eines nachhaltigen Konzeptes der inneren Sicherheit macht. Im größten Elendsviertel Südamerikas, der Favela da Rocinha in Rio, herrschten bis vor kurzem Drogenbosse. Morde auf offener Straße waren Alltag. Ganz in der Nähe entstehen die Sportstätten für die Olympischen Spiele 2016. Das kürzlich erfolgreich umgesetzte Favela-Befriedungskonzept bestand aus zwei Elementen: Auf die dauerhafte Besetzung durch die Militärpolizei folgte der Aufbau von Infrastruktur. Um den Einwohnern eine dauerhafte Alternative zu Drogenhandel und Kriminalität zu geben, mussten Jobs her. Diese gab es schon, aber außerhalb des Elendsviertels und damit unerreichbar. Deshalb wurde eine Seilbahn gebaut. Seitdem existieren "schwebende Pendler", die Anschluss ans Schnellbahnsystem in den Nachbarvierteln haben und somit anderswo einer geregelten Arbeit nachgehen können. Die Seilbahn, die insgesamt sechs von zwölf Favelas Rios durchquert und verbindet, ist das deutlichste Zeichen dafür, dass sich die Sicherheit im Labyrinth der Elendsviertel verbessert hat.
Brasiliens regionale Ambitionen und der Schatten der Korruption
Brasilien untermauert mit dem Ausbau der Verkehrsinfrastruktur auch sein Selbstverständnis als Regionalmacht. Die Wirtschaftswoche berichtete bereits vor einigen Jahren, dass die Regierung von Präsident Luiz Inácio Lula da Silva ab 2005 massiv in die Verkehrswege Südamerikas investierte und in sieben Nachbarländern große Infrastrukturprojekte startete. Ziel dieser Initiative war und ist die Integration Südamerikas unter Brasiliens Führung. So wurden Bauprojekte wie Gaspipelines in Argentinien, U-Bahn-Linien in Chile und Venezuela oder Wasserkraftwerke in Ecuador von der brasilianischen Regierung finanziert. Hinzu kamen Fernstraßen im Inneren Südamerikas, die erstmals Atlantik und Pazifik verbinden sollten. Allein 1,15 Mrd. Dollar flossen nach Venezuela, Peru profitierte von einer neuen Fernstraße (ca. 800 Mill. Dollar), Argentinien von Gaspipelines (760 Mill. Dollar) und Ecuador von Kraftwerken (430 Mill. Dollar). Insgesamt hatte Brasiliens nationale Entwicklungsbank BNDES 2,6 Mrd. Dollar für die Initiative vorgesehen, zusätzlich zu Exportfinanzierungen der staatlichen Banco do Brasil.
Doch bei aller Euphorie ist auch Vorsicht geboten. Bei riesigen öffentlichen Bauvorhaben ist Korruption bekanntermaßen ein weitverbreitetes Problem, und schlechte Rahmenbedingungen sorgen auch in Brasilien dafür. Auf dem Corruption Perceptions Index von Transparency International rangierte Brasilien 2011 an 73. Stelle, weit hinter Ländern wie Ruanda (49.) oder Namibia (59.). Gerade Brasiliens wichtigstes Streckenprojekt, die Ferrovia Norte-Sul, ist ein Paradebeispiel für Korruption. Diese über 2200 Kilometer lange Nord-Süd-Verbindung wurde bereits in den 1980er Jahren konzipiert und sollte längst fertig sein. Bislang ist aber nur ein Teilstück von 240 Kilometern befahrbar. Auch 2011 wurden die Bauarbeiten wegen Korruptionsskandalen, Planungsfehlern und Ausführungsmängeln immer wieder gestoppt.
Lassen Sie uns also hoffen, dass wir bei der WM 2014 zu den etwas entlegeneren Stadien in der Provinz Brasiliens auf den letzten Metern nicht mit dem Muli traben mussten, weil das entsprechende Geld für den Verkehrsanschluss versickert ist.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und Ihrer Familie erholsame Sommerferien,
Ihr Dieter Feige
Was denken Sie: Welche Rolle spielt Korruption bei der Verzögerung oder dem Scheitern kritischer Infrastrukturprojekte, insbesondere in Schwellenländern, und welche Lösungsansätze sehen Sie?


