Atacama - lost in desert
Die Eisenbahnschiene im Wüstensand: Das wahre Eldorado 4.0 in der Atacama-Wüste
Von vergessenen Silberminen und Salpeterkriegen zum "weißen Gold" Lithium: Eine persönliche Reise in Chiles faszinierende Rohstoffgeschichte.
Dieter Feige, November 2011
Am 12. September 2019 berichtete die FAZ in ihrer Rubrik "Zukunft der Mobilität" unter der Headline „Der Griff nach dem weißen Gold“ über den Abbau von Lithium in Bolivien und Chile. Diese Schlagzeile weckte in mir längst vergessene Erinnerungen an eine abenteuerliche Erlebnisreise. Sie führte mich 1994 mit meinem Freund Stephan und seiner Frau Siggi durch Chile, 4.200 Kilometer von der peruanischen Grenze bis nach Feuerland. Stephan, in Chile aufgewachsen und weltweit für Daimler-Benz unterwegs, war der perfekte "Einheimische" und Reiseführer. Der Besuch der Wüstenregion Antofagasta, der Atacama, wo heute das „weiße Gold“ Lithium gewonnen wird, war zutiefst beeindruckend: ausgetrocknete, rohstoffreiche Salzseen, eine der weltweit größten Kupferminen und vor allem die menschenverlassenen Geisterstädte, wo noch Wahlplakate von Salvador Allende hingen. Angeregt durch den FAZ-Bericht, habe ich mich in letzter Zeit wieder intensiv mit dieser Region und ihren faszinierenden Geschichten befasst.
Das wahre Eldorado: Von Silber und Salpeter zum Lithium-Fieber
Die Atacama war schon immer Schauplatz bedeutender Rohstoffgewinnung und ein Mosaikstein der globalen Industriegeschichte. Zuerst waren es die riesigen Silbervorkommen bei Chañarcillo. Es folgte das Salpeter, ein Rohstoff für Dünger und Sprengstoff, dessen Vorkommen zum erbittert geführten Salpeterkrieg zwischen Chile, Bolivien und Peru führte. Anfang des 20. Jahrhunderts begann die Förderung von Kupfer im Tagebau bei Chuquicamata.
Heute ist das „weiße Gold“ Chiles das heiß begehrte Lithium im Salar de Atacama. Hier lagern 7,5 Millionen Tonnen der weltweit ermittelten Reserven von 13,5 Millionen Tonnen – eine unglaubliche Konzentration eines kritischen Elements für unsere moderne Welt. Die jahrhundertelange Suche der spanischen Konquistadoren nach dem sagenhaften Goldland Eldorado, die sie von Kolumbien über Guayana bis Amazonien führte, blieb ergebnislos. Erst die Prospektoren und Geologen des 19. Jahrhunderts entdeckten das wahre Eldorado: die an wertvollen Bodenschätzen reichhaltige Atacama.
Baquedano: Eine Geisterstadt erwacht – Zeuge einer vergessenen Ära
Die öde Wüstenregion der Atacama belebte sich immer dann, wenn für den Abbau der Bodenschätze Heerscharen an Arbeitskräften gebraucht wurden. Doch wenn die Förderung eingestellt wurde, verließen die Menschen diese Stätten, und die Wüste holte sich zurück, was ihr gehörte. Eine Desertation begann, die Zurückgelassenes zu einem Teil der Wüste machte: Geisterstädte, verwaiste Straßen, Schienen, die in ein Nirgendwo führten. Einen solchen Ort, dem dieses Schicksal zuteilwurde, haben wir bei unserer Erkundung der Atacama besucht: Baquedano.
Dieses Dorf nördlich von Antofagasta, heute mit knapp 800 Bewohnern, erlebte ab 1870 eine wirtschaftliche Blütezeit mit der Erschließung großer Salzlager. Damals noch unter bolivianischer Flagge, strömten viele Chilenen in die Region. Nach dem Pazifikkrieg stand das Gebiet unter chilenischer Hoheit und galt als bedeutende Enklave des Bergbaus. Die Antofagasta and Bolivia Railway Company wurde mit der Errichtung der erforderlichen Schieneninfrastruktur beauftragt. Der 1910 erbaute Bahnhof Baquedano, knapp 90 km von Antofagasta entfernt, wurde rasch zu einem der wichtigsten Eisenbahnknotenpunkte an der Salpeterroute. Mit dem Ausbau zum Eisenbahnkomplex wuchs das Dorf rasch zu einer kleinstädtischen Gemeinde.
Ende der 70er-Jahre wurde der Betrieb eingestellt, die meisten Menschen verließen Baquedano. Die Desertation begann. Doch 1983 wurde der verlassenen Anlage der Status eines historischen Denkmals verliehen.
Das Museo Ferroviario de Baquedano: Ein Friedhof der Giganten
Baquedano beherbergt seitdem das Museo Ferroviario de Baquedano. Dank des extrem trockenen Wüstenklimas bleiben die stählernen Körper, Gerippe und Häute der Lokomotiven, Waggons, Lokschuppen, Wassertürme und Drehscheiben vom Rostbefall weitestgehend verschont. Auch den vielen Gebäuden und Anlagen verleiht das Wüstenklima eine Langzeitlebensdauer. Dort ruhen sie nun, wie auf einem Heldenfriedhof, als ausrangierte Veteranen, die lange im Dienst der State Railroad Company und zuletzt dem Unternehmen Ferronor gestanden haben. Sie verbringen die Tage bei glühender Hitze in grellem Sonnenlicht unter einem azurblauen, selten bewölkten Himmel in flirrender Luft. Nachts dämmern sie unter einem prächtigen Sternenhimmel.
Das Eisenbahnmuseum der Atacama in Baquedano konserviert in seiner einmaligen Totalität eine vormals lebendige Epoche der südamerikanischen Eisenbahnkultur. Der Blick auf das Areal, die Betrachtung der Lokomotiven und Waggons, der Anblick der Anlagen und Gebäude als stumme Zeugen einer technologisch ruhmreichen Vergangenheit lassen den Spirit dieser Zeit wieder ahnen und spüren. Der Besuch von Baquedano bietet höchst eindrucksvolle Erlebnisse und bewirkt nachhaltige Erinnerungen. (Einige Fotos zur Illustration vermögen sicher diese Eindrücke zu visualisieren.)
Dornröschenschlaf der Atacama? Lithium als neue Hoffnung
Die indigenen Ureinwohner, die Atacameños, seit mehr als 7.000 Jahren in Oasen beheimatet, verehrten die Mächte der Natur und glaubten an ein Leben nach dem Tod. Sie wussten aus Erfahrung, dass nach einer Periode der Trockenheit von sechs bis zehn Jahren regelmäßig heftiger Regen fällt, der eine zeitlang das Leben in der Wüste wieder wachsen und gedeihen lässt.
So wird gewiss auch das „weiße Gold“ Lithium die Atacama wieder zum Erblühen bringen und der Region eine neue Ära von Prosperität und Wirtschaftswachstum bescheren. Der Bedarf an Lithium als wichtigster Inhaltsstoff von Batterien steigt exponentiell an. Allein in der Batterie eines Elektroautos sind zwischen 11 bis 20 kg Lithium verbaut. Infolge der Elektromobilisierung steigt die Menge an benötigtem Lithium weltweit von 33.000 Tonnen in 2016 auf geschätzte 111.000 Tonnen in 2025. Fast zwei Drittel Lithium werden aus Salzseen gewonnen, und 60 % der Weltreserven lagern in der Atacama. Gründe genug, zuversichtlich der Atacama eine gute Zukunft zu bescheinigen.
Von Hoffnung getragene Gelassenheit vermitteln auch die Klänge und schönen Bildimpressionen von „Desierto Atacama“: https://www.youtube.com/watch?v=QUJyH0ecvgs
„Ein Quantum Trost“ heißt der 2008 in die Kinos gekommene James-Bond-Film mit Daniel Craig. Einer der Drehorte weltweit war die Atacama, genauer gesagt die Geisterstadt Cobija, das Paranal-Observatorium der ESO und das ESO Hotel sowie Antofagasta. Ein Quantum Trost – eine Botschaft an die Atacama, die Hoffnung nicht zu verlieren. Diese Hoffnung auf eine neue Chance drückt sich auch in den Fotos aus dem Museo Ferroviario de Baquedano aus. All die in einem einsatzfähigen Zustand zum Nichtstun verdammten Lokomotiven, Waggons und Einrichtungen dieses Eisenbahnkomplexes vermitteln den Eindruck, auf dem Sprung aus ihrem musealen Stillstand zu stehen, um wieder ins Rollen zu kommen und in Betrieb zu gehen. „¡A una nueva vida, Atacama!” – Auf ein neues Leben, Atacama!
Was denken Sie: Wie kann die Balance zwischen dem Schutz solch einzigartiger Wüstenökosysteme und dem globalen Bedarf an Rohstoffen wie Lithium gelingen?
Ihr Dieter Feige




